Brans Reise
zu tun. Nachdem er das Fischfleisch heruntergeschluckt und seinen Teil von dem gekochten Wasser getrunken hatte, kroch er nach draußen und ging zum Strand hinunter. Der Rauch, der aus den Hütten emporstieg, sagte ihm, dass die meisten noch an den Feuerstellen saßen. Er folgte dem Bach zu den Dünen, die er dann emporstieg. Jeden Morgen ging er diesen Weg, und das Erste, was er sah, wenn er sich dem Gipfel der Düne näherte, war das Meer. Er sah die lang gestreckten Wellen und spürte den Wind. Und dann, wenn er ganz oben ankam, fiel sein Blick auf den Strand hinunter. Nur ein Mann war jetzt dort unten. Turvi hatte ihm den Rücken zugedreht und starrte aufs Meer hinaus. Der Umhang hing von seinem Rücken herab und schlug im Wind. Sein rechtes Bein, das knapp unterhalb des Knies abgetrennt war, bewegte sich sachte im Wind vor und zurück. Bran rutschte den sandigen Abhang hinunter. Der Wind strich ihm über die Brust.
Als er den Strand erreichte, ging er weiter auf den Einbeinigen zu. Turvi stand noch immer regungslos da. Bran wusste, dass er Noj betrauerte. Der alte Mann war gemeinsam mit ihm aufgewachsen und hatte Seite an Seite mit Noj gegen die Kretter gekämpft, nachdem der Vogelmann in die Felsenburg gekommen war. Bran konnte sich nur schwach daran erinnern. Er war damals kaum älter als drei Winter gewesen, und seit dieser Schlacht, in all den fünfzehn Jahren bis zu der Lawine, hatte Frieden zwischen seinem Volk und dem der Kretter geherrscht. Aber er hatte die Geschichten gehört; über die Vokker, die Turvis Bein zerschmettert hatten, und über die Waldgeister und deren Jagd nach der Wurzel.
»Hör Beravs Stimme«, sagte Turvi. »Er lockt uns, aber wir sind nicht sein Volk.«
Bran lauschte. Wind und Wellen sangen ein gemeinsames Lied. »Wir sind das Felsenvolk, Kraggs Volk.«
»Das ist richtig.« Turvi stützte sich auf seine Krücke. »Kraggs Volk.« Er schloss die Augen und öffnete den Mund. »Aber Kragg ist der Gott des Gebirges, und wir haben sein Reich verlassen. Und wir wissen, dass er nicht der einzige Gott ist. Es gibt Götter für Krieg und Frieden, Wanderungen und Ruhephasen, Wälder und Meere. Und Berav ist der Gott des Meeres.«
Turvi humpelte ein paar Schritte näher auf das Wasser zu. »Wir sind nicht wie die anderen Völker«, sagte er, »wir denken nicht wie die Kretter oder die Kelsmänner, die nur einen Gott haben, den sie anbeten. Von klein auf lehren uns unsere Eltern, die Stärke des Gebirges zu spüren, den Stimmen des Windes und dem Flüstern der Bäume zu lauschen. Wir nennen sie die Namenlosen, denn nur wenige dieser Götter haben sich uns gezeigt und sich als Götter zu erkennen gegeben.«
Der Einbeinige bewegte seinen Kopf sacht hin und her. »Wie sollten wir da glauben, dass es nur einen Gott gibt? Das hieße, unsere Toten zu verhöhnen, die durch alles zu uns sprechen, was wir sehen und spüren. Deshalb stehe ich jetzt hier, Bran. Darum habe ich hier gestanden und zugesehen, wie aus der Nacht Tag wurde. Denn überall um mich herum sehe ich Noj! In den Wolken, im Gras und im Sand. Ich höre ihn, Bran! Es ist seine Stimme, die ich im Wind höre.«
Bran versuchte zu lauschen, doch er hörte einzig die Wellen, die sich auf den Strand warfen. Turvi drehte sich um und ließ es zu, dass der Wind, der ihm jetzt in den Rücken wehte, seine Haare packte und damit sein Gesicht verhüllte, doch hinter den grauen und weißen Locken konnte Bran ein Lächeln erkennen.
»Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit.« Der Einbeinige hielt den Atem an und schloss die Augen, wie so oft, wenn er viel zu sagen hatte. »Kragg hat sich uns gezeigt und mit seinen Schwingen die Sonne verdunkelt. Er ist auf das Meer hinausgeflogen und hat uns zugeschrien. Er hat uns gebeten, ihm zu folgen. Und das werden wir bald tun. Doch einige der Männer sind zu mir gekommen und haben mir ihre Zweifel kundgetan. Sie würden am liebsten einen Weg vorbei an den Vokkern suchen, nach Hause in die Felsenburg reisen und die Reste unserer Häuser wieder neu aufbauen.«
»Das wäre ein Fehler.« Bran sagte das leise, denn er wollte dem weisen alten Mann nicht widersprechen. »Kragg hat uns…«
»Er hat uns einen neuen Weg gezeigt« sagte Turvi nickend. »Und dem müssen wir folgen. Auch diejenigen, die unsicher sind, verstehen das. Aber wir müssen ihnen vergeben, denn sie haben Angst. Sie fürchten das Meer und das Unbekannte. Und sei gewiss, Häuptling: Auch ich habe Angst. Aber Angst macht Mut.«
Bran ließ
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