Brans Reise
seinen Blick über die Wellen schweifen. Das Meer flüsterte und sang mit einer Vielzahl von Stimmen. Die Namenlosen wussten, dass er das Unbekannte dort draußen fürchtete. Sie kannten seine Furcht ebenso, wie ein Wolfsrudel die Angst des Hirsches wahrnimmt. Doch davon konnte er nicht sprechen. Er war jetzt der Häuptling. Er musste stark sein, wie Noj es gewesen war.
Sie standen lange still da und lauschten dem Wind, denn er gab ihnen all die Worte, die sie brauchten.
»Unser Weg kann beginnen«, sagte Turvi schließlich. »Wir wussten die ganze Zeit, dass dieser Augenblick kommen würde. Und Kragg hat uns viele Zeichen gegeben. Zuerst hat er zu dem Vogelmann gesprochen und ihn gebeten, uns zu erzählen, dass wir die Felsenburg verlassen müssen. Schon da habe ich gespürt, dass es an der Zeit ist, aufzubrechen. Auf der Ebene hat Kragg die Sonne verdunkelt und sich uns in all seiner Größe gezeigt. Dann töteten die Vokker die Hälfte unserer Männer und machten uns zu einem Volk, das zu klein ist, um zu überleben, und allein schon deshalb sollten wir lossegeln und Ansiedlungen suchen, in denen Menschen bereit sind, aufzubrechen und sich mit uns zu vereinen.«
Der Einbeinige wandte sich ihm zu. Bran wusste, an was er dachte: Wie oft hatte Turvi genörgelt, er solle sich endlich eine Frau suchen! Der alte Mann lehnte sich auf seine Krücke und blickte über das Meer.
»Aber wir haben noch mehr Zeichen erhalten, Bran. Kragg hat zu uns gesprochen. Durch Träume, wie es seine Art ist. Und wir sind ein Volk, das es versteht, auf Träume zu hören, denn wir wissen, dass das die Stimmen der Götter sind. Sie helfen uns Menschen mit unseren Problemen, indem sie uns Bilder sehen lassen, während wir schlafen.«
Turvi wischte sich die Augenwinkel trocken. »Und jetzt… Nojs Tod. Ein neuer Häuptling. So viele Zeichen und alle deuten auf ein neues Land.« Er zeigte mit dem Arm aufs Meer hinaus. Die Wellen glänzten stahlgrau im schwachen Morgenlicht. »Da«, sagte er. »Dort ist unser neuer Weg. Wir sollen aufs Meer hinaus, und während wir dort sind, müssen wir Beravs Volk sein. Kragg wird das verstehen. Er wird auf uns warten und uns mit seinen Schwingen umfangen, wenn die Zeit gekommen ist.« Jetzt wandte er sich wieder Bran zu. »Also sag mir, junger Mann: Wann sollen wir reisen? Denn dieser alte Körper hat noch viel zu sehen und zu erleben!«
Bran warf einen Blick auf die Schiffsrümpfe. Das Harz bedeckte die Planken, und die Kielbalken waren scharf geschliffen. Wie die Fischerboote maßen sie drei Körperlängen. Wenn die Männer die Masten aufrichteten, würde es genug Platz geben, um ein Tuch aufzuspannen, unter dem man im Bug schlafen konnte.
»Die Boote sind bald fertig«, sagte er. »Nur den zwei letzten fehlen noch ein paar Planken. Wenn du es für richtig hältst, bitte ich die Männer heute, Bäume für Masten und Ruder zu fällen.«
»Wenn ich das für richtig halte?« Turvi lachte. »Du bist jetzt der Häuptling, Bran! Du musst entscheiden!«
»Dann drehen wir die Rümpfe heute um.« Bran wandte sich dem Ostwind zu, so dass seine langen Haare aus seinem Gesicht geweht wurden. »Es nützt nichts, hier noch länger zu warten. Wir segeln los, sobald der Wind dreht.«
Turvi lächelte. »Du sprichst schon wie ein Häuptling! Mach weiter so, Bran. In Beravs Land brauchen wir einen Führer. Und ich habe immer an dich geglaubt, Junge. Denn da Viani nie einen Jungen geboren hat, wusste ich, dass wir eines Tages einen Häuptling aus einer anderen Blutlinie als der von Noj wählen müssten.«
Bran trat in den Sand. Turvi hinkte näher und betrachtete seinen Oberkörper.
»Du hast schon immer einen starken Rücken gehabt« sagte der Alte und nickte. »Breite Schultern… Arme, geschaffen, um Schild und Speer zu halten. So ungleich deinem Bruder. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet du das Schwimmen gewonnen hast. Hagdar ist zu alt und muss auf seine Frau und seine Kinder aufpassen. Und Velar… zu rasch, zu jung. So voller Kampfeslust, doch ohne die Fähigkeit zuzuhören, wenn der Wind und die Ebene sprechen.« Turvi schüttelte den Kopf und hinkte zurück in Richtung der Dünen.
Bran folgte ihm. Der Einbeinige stützte sich auf ihm ab, während sie gemeinsam den sandigen Hügel emporstiegen. Als sie beinahe oben waren, ließ sich Turvi auf einen Grasbüschel fallen. Bran setzte sich neben ihn. »Hier sitze ich oft.« Turvi rieb sich mit den Händen den Kniestumpf. »Das ist ein guter Ort, um dem Wind
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