Brans Reise
würde bald aufwachen und Trost brauchen, wenn er seinen Armstumpf unter den Leintüchern wahrnahm. Sie flößte ihm einen Schluck Wasser ein und sank dann wieder auf das leere Bett. Dort überkreuzte sie die Beine, legte die Arme in den Schoß und streckte ihren Rücken. So pflegte sie zu sitzen, wenn sie ruhen wollte, aber nicht schlafen konnte. Während der langen Nächte ließ sie Gedanken und Träume eins werden, und so verrann die Zeit bis zum Morgen. Oft dachte sie an die Jahre, in denen sie bei den älteren Galuenen gelernt hatte. Sie erinnerte sich an die Kräuter, die sie am Duft erkennen musste, und an die Tage, an denen sie auf der Suche nach Wurzeln und Blättern, die die Galuenen gebrauchen konnten, über die Strände und Ebenen gelaufen war. Niemals würde sie den Frühling vergessen, in dem die Tuurer die Langschiffe im Schärengarten angriffen und die Männer mit Pfeilwunden und Verletzungen von Schwerthieben an Land gekarrt wurden. An diesem Tag starb zum ersten Mal ein Mensch unter ihren Händen.
Doch die Lehrzeit war eine gute Zeit. Schließlich vermisste sie Silak nicht mehr. Sie war eine Heilerin und erfuhr alles über Galus Töchter, die in der Zeit der großen Wanderungen gelebt hatten, als die Arer zu Kriegern wurden. Galu gab Ars kräuterkundigen Frauen ihren Namen, und von ihr lernten sie, dass Cernunnos ein Gott des Lebens war.
So wurde auch sie eine Galuene, und auf Fa Ton war sie die Einzige gewesen. Da gab sie den alten Fischern Kräuter gegen die Gicht und half den Tangsammlern, die auf Stachelrochen getreten waren. Und die Frauen riefen sie zu sich, wenn sie gebären sollten, denn sie war die Einzige, die Galus Wissen in sich hatte. Das erste Mal war sie erschrocken gewesen; während ihrer Lehrzeit hatte sie immer nur daneben gestanden, wenn die Galuenen bei einer Geburt halfen. Doch sie wusste, was zu tun war, und als sie zum ersten Mal ein Neugeborenes an die Brust seiner Mutter legte, spürte sie eine Freude, die größer war als alles andere.
Tir schloss die Augen und strich sich über den Bauch. Dort drinnen… Sie wusste, dass der Körper nicht immer dem Mond folgte. Trotzdem spürte sie etwas, einen seltsamen Lebenswillen, inmitten dieses kriegerischen Winters. Sie war stolz, denn hatte sie sich nicht immer gewünscht, ein Kind zu haben und so wie die anderen Frauen zu sein?
Der Wind fauchte um den Turm. Die Fensterläden an der Ostseite sprangen auf, und eine Böe warf Schnee durch das Holzgitter. Sie hastete hinüber und packte die Läden mit beiden Händen. Der Wind heulte über die Ebene. Sie sah, wie der Schnee von den Hausdächern geweht wurde. Er pfiff um die Ecken, riss in der breiten Turmstraße ein Bündel Trockentang vom Dachvorsprung eines Hauses, fegte durch die Stadt hinunter und blies den Raunebel fort. Tir blickte zu dem hohen Turm am Ende der breiten Straße hinüber. Dort hatte Cernunnos ihn gesehen. Dort hatte der, der das Geweih trägt, Bran aus dem Reich des Todes zurückgeholt. Ein Opfer würde er dafür verlangen, ein Leben für das Leben, das er gab.
Tir verriegelte die Läden wieder und wischte sich den Schnee von den Wangen. Sie nahm den Umhang von der Truhe und schlug ihn wie eine Decke um sich. Dann sank sie erneut auf das Bett. Wie ein Kind rollte sie sich auf der blutigen Torfmatte zusammen und schob den Kopf unter ihre Arme. Die Gedanken durchschossen sie wie Wellen. Sie fror, sie hatte Sehnsucht. Sie war ein Feuer, von dem sie nur die Wärme spürte. Nicht einmal in dem Moment, als sich der Schnee auf ihre Insel gelegt hatte, war sie einsamer gewesen als jetzt. Sie hasste Visikal für den Krieg, in den er Bran geschickt hatte. Sie hasste die Gier der Skerge. Visikal war zu ihr gekommen und hatte ihr gesagt, dass sie dem fremden Häuptling versprochen sei und dass dieser mit dem Blut der Feinde dafür bezahlen werde. Er hatte gesagt, dass Tirga in den Krieg zöge, um das Unrecht zu rächen, das man ihr angetan hätte. »Bran hat mich bereits gerächt«, hatte sie geantwortet, doch Visikal hatte sich abgewandt und seinen Krug geleert.
Die Kälte kroch über ihre nackten Beine. Sie streifte ihre Stiefel ab und zog die Füße unter den Umhang. Einen ihrer Arme hatte sie vor die Brust gelegt, und so spürte sie die Schläge ihres Herzens auf ihrer Handfläche. Ihre Herzschläge wurden zu einem Trommeln, und plötzlich war sie wieder zurück in den Straßen. Sie ging zum Turm hinauf. Bran schob das Tor auf. Sie gingen hinein und knieten vor dem
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