Brans Reise
legte und den Verband zu lösen begann. Mit jeder Lage wurde er röter und nasser, und zu guter Letzt konnte sie den Armstumpf auf den abgewickelten Verband legen. Sie selbst hatte die Haut über den sauberen Schnitt gezogen und das Fleisch entlang der nackten Unterarmknochen festgenäht. Fünfzehn Tage waren vergangen, seit Vaman mit den Verwundeten in den Hafen gesegelt war, fünfzehn Tage seit der grausamen Nacht, in der sie und die anderen Galuenen sich über die zerschundenen Körper hatten beugen müssen und auch noch das letzte Leintuch Tirgas vor Blut troff. Viele waren seither gestorben, und es überraschte sie, dass Nesm überlebt hatte.
Sie wusch die Wunde und schmierte sie mit dem Minzbrei ein. Dann legte sie den Armstumpf auf ein frisches Tuch und ging zu dem anderen Mann hinüber. Auch die zweite Schüssel stellte sie auf das mittlere Bett.
»Die Pfeilwunde…« Sie schlug die Decke von dem Verwundeten zurück. Der breite Brustkorb und die kräftigen Schultern dampften. Der ganze behaarte Körper stank nach Eiter und Schweiß.
Tir beugte sich über seinen Schenkel. Die Pfeilwunde war aufgedunsen und glich einer Kugel unter der Haut. Ebenso übel sah die tiefe Wunde in seiner Schulter aus. Sie holte tief Luft, legte ihre Hände auf die Pfeilwunde und drückte zu. Gelber Eiter und Blut sickerten heraus. Der Gestank erinnerte sie an die grünen Fische, die sie in der Bucht gefangen hatte, ehe die Vandarer kamen. Sie hatte sie mit den Händen gefangen und roh gegessen, sich erbrochen und dann die Fischstücke erneut aus dem Sand aufgeklaubt. Der Hunger hatte ihr während des ersten Mondes auf der Insel fast den Verstand geraubt, bis sie gelernt hatte, wie ein Tier zu leben.
Sie wischte den Eiter weg und schmierte die Wunde mit Minzbrei ein. Auch die Schulter drückte sie so weit wie nur möglich aus, bevor sie sie wusch und salbte. Sie konnte nichts anderes tun. Die Galuenen beteten jeden Tag und jede Nacht für die Verwundeten. Und vielleicht erhörte Cernunnos sie.
Tir stand auf und öffnete die Gitterläden vor dem Nordfenster. Dann holte sie die Bronzeschüssel und kippte das Wasser aus. Eine Weile blieb sie am offenen Fenster stehen und sah auf das Meer hinaus. Eine Möwe glitt vom Höhenzug westlich der Stadt hinunter, schrie und verschwand im Nebel über dem Meer. Die Mole war bloß ein Schatten, die hintersten Anleger nur mehr Konturen im Grau. Dort draußen hatte sie gestanden, am äußersten Ende des östlichen Molenarms – jeden Abend, seit die Verwundeten an Land getragen worden waren. Sie erinnerte sich, wie sie zum Hafen hinuntergelaufen war, als das Langschiff hereinruderte, und wie sie an Deck gesprungen war, um nach ihm zu sehen. »Es war ein harter Kampf«, hatte Vaman gesagt. Und sie hatte nach dem Tileder des fremden Volkes gefragt, woraufhin Vaman nach Westen gezeigt hatte. »Sie sind weitergesegelt, Richtung Vandar.«
Tir schloss die Gitterläden und ging zu den Betten zurück. Sie setzte sich auf das mittlere Bett und stellte die Bronzeschüssel in ihren Schoß. Sie war geschliffen und geledert, so dass Tir sich am Boden der Schüssel spiegeln konnte. Und sie sah die dunklen Ringe unter ihren Augen. Kianna hatte Recht. Sie war müde, und der Winter auf der Insel hatte sie verändert. Ihre Wangen waren schmaler geworden. Sonne und Wind hatten für immer ihre faltigen Spuren auf der Haut an ihren Augen hinterlassen. Sie sah nicht mehr aus wie Visikars Tochter, die Tochter des Reichen, die Bernsteinschmuck trug und Leinenkleider aus Kels.
Sie gähnte und ging langsam zu den Regalen hinüber. Dort stellte sie die Bronzeschüssel ab. Dann schloss sie alle Fensterläden der vergitterten Fenster, auf dass die Nachtkälte den Fackeln nicht die Wärme raubte. Als sie die Männer wieder zugedeckt hatte, blieb sie ein paar Schritte vor der Bronzeschüssel stehen und neigte den Kopf. So hatte er gestanden, dachte sie, als er den Spiegel entdeckt hatte. Wie eine Katze, die zum ersten Mal ihr Spiegelbild sieht, hatte er die Rückseite der Eisenplatte abgesucht. Er war verwundert und voller Angst gewesen, und erst nachdem er gegangen war, hatte sie das verstanden. Für sein Volk war so etwas Zauberei, etwas, das sie nur aus Liedern und Erzählungen kannten. Aber trotzdem wirkten die Männer und Frauen dort unten in ihrem Zeltlager glücklicher als die Tirganer. Sie hatten keine Kriege zu führen.
Nesm stöhnte. Tir ging zu ihm hinüber und wickelte die Verbände wieder um seinen Stumpf. Er
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