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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Altar nieder.
    Dort war es geschehen. Als sie den Kopf senkte und die kalten Steinplatten unter ihren Knien spürte, hatte sie es gehört. Eine Stimme, ein Gefühl. Er sprach. Sie hatte sich selbst gesehen, mit einem Kind auf den Armen. Bran saß an ihrer Seite. Worte waren im Wind und in den Wellen unter ihrem Rücken; flüsternde Stimmen sprachen in der uralten Sprache der Arer: Beir-te uair eile… Beir-te uair eile… Wiedergeboren… Und alles, was sie spürte, war der Atem Cernunnos’.
    Tir spürte, wie der Schlaf sie übermannte. Sie wusste, dass sie nicht einschlafen durfte, doch es gelang ihr nicht, aufzustehen. Sie war jetzt bei Bran. Sie ließ ihre Hände über seinen Körper gleiten. Sie küsste sein zerschundenes Ohr und bat ihn, seinen Schmerz freizugeben, denn sie wollte ihn für ihn tragen.
     
    Tir träumte vom Meer. Sie segelte mit ihrem Vater zwischen den Riffen hindurch nach Osten, in Richtung der Flößerstadt, wo die Tangsammler lebten. Die Möwen waren weiße Kreuze unter den Wolken. Das Meer war glatt, und das Segel flatterte unter dem Querbaum. Vater ließ das Schiff sich selbst steuern, denn im Sommer führte sie die Strömung nach Osten.
    »Bald sind wir am Atoll.« Vater sprang vom Bugspriet und kam zu ihr herüber. Er schob eine Hand unter seinen juwelenbesetzten Gürtel und zeigte mit der anderen über das Meer. »Siehst du die Flagge? Der weiße Punkt am Ende des Meeres, gleich Steuerbord vom Stag. Dort hinten liegt die Stadt der Tangsammler.«
    Tir sah die Flagge und saß den Rest des Tages auf den Kornsäcken im Bug und spähte nach der Stadt, die langsam aus dem Meer herauswuchs. Flöße und Schiffe ohne Masten erhoben sich aus der Abenddämmerung. Menschen ruderten aus dieser schwimmenden Burg heraus und kamen ihnen entgegen. Und Vater grüßte sie. Er ließ sie das Schiff ins Atoll ziehen, und die Tangsammler vertäuten das Schiff und verbeugten sich voller Ehrfurcht vor ihm. Er folgte ihnen in die Stadt. Männer und Frauen umringten sie. Sie waren in Lumpen gekleidet und trugen Muschelschalen und Fischgräten als Schmuck.
    »Galu, Galu. Wir haben auf dich gewartet. Die Frau des Häuptlings…« Sie leiteten sie über Flöße und Stege, die knirschend über das flache Wasser führten. Die Menschen erhoben sich in ihren Winkeln, krochen aus ihrem Windschutz hervor und folgten ihr wie eine Schleppe. Sie sah, dass die halb verfaulten Schiffsrümpfe in einem Ring um die Tangflöße vertäut waren. All ihr Reichtum steckte in diesem Tang, der darauf wartete, nach Tirga oder Fa Ton geschleppt zu werden.
    »Galu, Galu… Hier…« Sie zogen eine Felltür zur Seite, und sie kroch ins Halbdunkel und tastete sich zur Treppe vor, die in den alten Schiffsrumpf hinunterführte. Dort unten griffen viele Arme nach ihr. Sie führten sie über einen Flur. Eine Tür knirschte. Dann war sie in einem Zimmer. Ein Mann stand vor ihr, und er kniete nieder und küsste ihre Hand. Und sie sah die glänzenden Muschelschalen, das Bett und die Frau darin.
    »Wir warten schon so lange.« Der Mann führte sie zu der Frau. »Ich habe Angst um sie.«
    Sie beugte sich zu der Frau hinunter und betastete deren Stirn.
    »Gelobt sei Cernunnos.« Die Frau sah zu ihr auf. »Du bist hier.«
    Tir legte ihr Ohr auf den Bauch der Frau. Sie konnte das Kind darin hören.
    Sie bat den Häuptling, Wasser und reine Leinentücher zu holen. Und in diesem Moment, während sie mit der Frau allein war, geschah es. Die Frau begann zu schreien, das Kind kam.
     
    Sie wachte auf. Sie warf ihren Umhang ab und kroch aus dem Bett, ehe sie auf dem kalten Steinboden stehen blieb und wie ein gejagter Hase schnaufte. Irgendetwas stimmte nicht. Ihr ganzer Körper ließ sie das spüren. Der Tod war im Raum.
    Tir sprang zu dem Fremden mit den Pfeilwunden. Er lag mit offenen Augen da und starrte an die Decke. Die Decken hatte er weggetreten. Sie presste ihre Finger gegen seinen Hals. Sein Herz schlug noch, wenn auch nur schwach. Sie legte ihr Ohr auf seinen aufgerissenen Mund und lauschte. Er atmete nicht.
    »Lebe!« Sie legte sich quer über den großen Körper und blies ihm ihren eigenen Atem in den Mund. Sie schlug ihm auf die Brust. Dann steckte sie ihm ihre Hand in den Hals und zwang ihn, sich zu erbrechen. Sie drehte ihn auf die Seite, so dass sich der Auswurf über den Boden ergoss. Dann drehte sie ihn auf den Rücken zurück. Er schnappte nach Luft und zitterte. Tir sackte neben ihm zusammen. Sie legte ihre Wange auf seine Brust. Das Herz

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