Brans Reise
noch enger um sich und hastete durch die Nebelzungen weiter.
Erst bei den Booten des Felsenvolkes, die mit dem Kiel nach oben auf dem hintersten Anleger lagen, verharrte sie. Dann kletterte Tir auf die Mole und schlug sich die Kapuze in den Nacken. Ihr Blick ruhte auf den Wellen. Oft ging sie zu diesem Ort, denn hier konnte sie der Stille lauschen und ihren Erinnerungen Raum geben. Mehr als ein Mond war vergangen, seit Bran davongesegelt war. Und seit zweimal zehn Tagen zählte sie die Zeit.
Mit einem Mal drehte sie sich um und starrte zum Vollmond, der im Osten über dem Meer glänzte. Sie zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und kletterte von der Mole herunter. Sie folgte dem Pfad am Rand der Kaimauer entlang, denn dort hatte der Wind den Schnee von den vordersten Steinblöcken fortgeblasen. Sie sah ins Wasser hinunter, auf dem sich die Eisschollen knirschend aneinander rieben. Früher am Tag waren die Fischer durch das dünne Eis hinausgerudert. Sie hatte auf dem Turm gestanden und zugesehen, wie sie mit ihren Booten zu den Stränden im Osten segelten, wo sie sie für den Winter an Land zogen. Das Felsenvolk zog seine Boote auf den Anleger hoch. Nur zwei Schiffe lagen noch immer hinter der Mole verankert. Tir sah zu den hohen Schiffsrümpfen hinüber. Die Händler wollten im Schutz der Mole überwintern, denn sie hatten genug Waren für die kalte Jahreszeit, und ihre Zweimaster vertrugen das Eis. Der Rest der Händler war vor fünf Tagen aufgebrochen. Sie hatten Kurs auf die Städte im Norden genommen, Richtung Krett und Kels. Der Winter hatte sie vertrieben.
So war es hier zu dieser Jahreszeit immer gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind zwischen den Ankerketten der festgefrorenen Zweimaster hindurchgeschlendert war. Auch damals waren die Männer wahrscheinlich auf einem ihrer Kriegszüge gewesen.
Tir sah zu dem breiten Turm auf, der zwischen den Häuserdächern emporragte, ehe sie hastig weiterging. Sie lief zwischen den Trockengestellen und den wenigen Buden, die noch auf dem Hafenplatz standen, hindurch zu der Gasse, die zwischen den Häusern nach oben in die Stadt führte. Mit hastigen Schritten stieg sie die Treppe empor, eilte am Turm der Schriftgelehrten vorbei und bog dann nach links in eine schmale Gasse ab. Die Dächer über ihr waren mit Planken verbunden, so dass weder Schnee noch das Mondlicht hindurchdrang. Hier blieb sie stehen, lehnte ihren Rücken gegen die Steinwand und atmete schwer mit offenem Mund. Die Übelkeit verknotete ihren Magen. Sie spürte den Speichel in ihrem Mund.
»Tief durchatmen«, flüsterte sie sich selbst zu. »Dann geht es vorüber.«
Sie legte die Hände auf ihren Bauch und atmete tief ein, ehe sie die Luft wieder ausstieß. Da verschwand die Übelkeit, und sie ging weiter in den dunklen Gang hinein. Zweimal zehn Tage, dachte sie. Andere Frauen waren zu ihr gekommen und hatten ihr erzählt, dass sie schon Tage darauf warteten, dass ihre Blutungen begannen. Hätten sie von so vielen Tagen gesprochen, hätte sie ihnen gesagt, dass sie vielleicht ein Kind unter dem Herzen trugen.
Tir drückte sich an einer Reihe von Tonnen vorbei, die die schmale Gasse fast versperrten, kletterte die anschließende Treppe empor und kam am Fuß eines Turmes heraus. Dieser Turm erhob sich nur wenige Körperlängen über die Hausdächer, doch er war breit und von Flechten überwuchert. Der Turm stand in der Mitte eines gepflasterten Platzes. Das Mondlicht warf Schatten auf den Schnee und ließ die vielen Fußabdrücke zu bläulichen Löchern im Boden werden. Rasch schritt sie über den Platz, trat auf den breiten Trittstein vor dem Tor und zog an dem Eisenring. Das Tor öffnete sich leicht, und Tir trat ein.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb sie einen Augenblick stehen, damit sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnen konnten. Hier gab es keine Fackeln. Nur das Mondlicht, das durch die Schießscharten eine Mastlänge über ihr hereinfiel, verriet, wo sich die Treppe an der Innenseite der Turmmauer nach oben schraubte. In der Mitte des Turms waren die Kornsäcke aufgestapelt worden, wie eine Säule des Lebens. Sie nahm den trockenen, warmen Geruch wahr, strich sich die Haare aus den Augen und stieg die Treppe hinauf. Sie knirschte bei jedem Schritt, und auch das Rumoren in ihrem Bauch schien mit jeder weiteren Stufe zuzunehmen. Dieses Mal war es keine Übelkeit, sondern ein Gefühl von Schwere, von etwas in ihr, das ein Teil von ihr und doch auch fremd war. Sie
Weitere Kostenlose Bücher