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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Also müssten wir morgen das Meer erreichen. Es liegt hinter…« Vor lauter Erregung spuckte er wieder in die Flammen. »Es liegt hinter dem hohen Hügel!«
    Bran war müde und wollte sich nicht von Vermutungen hinreißen lassen. »Es ist nicht sicher, dass uns das Moor genau nach Westen geführt hat. Wir könnten ein bisschen nach Süden gekommen sein. Wir könnten…«
    »Ich habe die Sterne beobachtet!« Keer deutete mit drei zitternden Fingern über seinen Kopf. »Da! Der Wagen, der Nordstern, die Mondsichel am Westhimmel! Glaubst du, dass ich hier sitze und Unsinn erzähle wie ein Jüngling auf seinem ersten Kriegszug?«
    Bran rappelte sich auf und starrte den Tirganer erschreckt an. Keer saß mit aufgerissenen Augen da. Dann runzelte er die Stirn, atmete aus und sah zu Boden.
    »Ich bin müde, Tileder. Das ist der Hunger. Ich hätte das nicht sagen…«
    Bran kroch zu ihm hinüber. Er legte den Pelzumhang um Keers Rücken und wärmte ihn. Keer saß ganz still, als hätte er nicht einmal mehr die Kraft zum Atmen. Dann wickelte Bran den Schal von seiner Hand. Er musste den Stoff von dem angetrockneten Blut an den Fingerstümpfen loszupfen. Dann sammelte er eine Hand voll Birkenrinde und legte die Streifen mit der weißen Seite auf die Wunden. In den Bildern, die die Flammen malten, sah er Turvi vor sich. Der Einbeinige saß in seiner Hütte in der Felsenburg. Er deutete auf seinen Beinstumpf und lachte. »Wunden? Ich kann euch etwas über Wunden erzählen! Es sind die Entzündungen, die die Menschen töten, nicht die eigentliche Wunde. Aber legt Rinde darüber, am besten von einem alten Wacholder. Das ist die Pflanze der Götter, Kinder. Der Wacholder, der Reine.«
    Er wickelte den Schal über die Rinde, damit alles am richtigen Ort blieb. Dann ließ er Keer in Frieden und hockte sich neben das Feuer. Er legte den Bogen unter seine Hacken und schloss die Augen. Sollte ihn die Kälte im Schlaf überraschen, würde er umfallen und aufwachen.
     
    Bran schlief die ganze Nacht, und der Frost quälte ihn weniger stark, als er angenommen hatte. Die Kälte zog sich vor den Schneewolken zurück, die vom Meer aufs Land trieben, und als sich die zwei Männer erhoben und weitergingen, schneite es bereits heftig.
    Rasch kletterten sie die nächste Anhöhe empor, denn Bran wollte gern diesen Höhenzug sehen, den Keer entdeckt hatte. Leider verschlechterte das Schneetreiben die Sicht, so dass sie nur die Kronen der im Tal vor ihnen stehenden Bäume erkennen konnten. Trotzdem wanderten sie mit Zuversicht weiter, denn beide wussten sie, dass das Meer nicht mehr weit entfernt sein konnte.
     
    Sie maßen ihren Weg nicht in Zeit, weil sich die Sonne hinter einem Himmel aus Eis versteckte. Sie zählten Hügel und Täler und lauschten vergebens nach dem Rauschen der Wellen. Und nicht einmal den Vögeln gelang es, den Teppich der Stille zu durchbrechen, der über das Land fiel.
    Nach einer Weile, die sich wie ein ganzer Tagesmarsch anfühlte, kletterten sie auf einen Hügel, der höher und lang gestreckter war als die anderen. Keer hielt sich die Hand über die Augen und blinzelte ins Schneetreiben.
    »Das Meer«, sagte er. »Ich kann es riechen.«
    Sie stolperten den flachen Hang hinunter. Bran sah hier keine Bäume, weder dichte Fichten noch schwarz gefleckte Birkenstämme, wie sie ihnen in jeder Senke begegnet waren.
    Bran und Keer rannten weiter in die Ebene hinein. Was sonst sollte das sein, dachten sie, diese baumlose Fläche? Sie hatten endlich das Ende des Hügellandes erreicht und mussten auf dem flachen Land stehen, das sich vor der Küste erstreckte. Und so rannten sie auf das Meer zu, das sie vor sich wähnten, auf die Wellen und die Hoffnung. Die Schneeflocken fielen ihnen in die Augen und machten sie blind, und die Waffen, die Kleider und das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln waren die einzigen Laute, die sie hörten.
    Zuerst war es nur ein Schatten, ein Windhauch, der die Schneeflocken dazu brachte, in einem bestimmten Muster zu Boden zu sinken. Als sich das Dunkel aber aus dem Schneetreiben vor ihnen erhob und sie auf einen Pfad voller Schlittenspuren und Fußabdrücke kamen, verstanden sie es. Sie froren förmlich am Boden fest und starrten auf die Steinmauer. Jetzt, da sie still standen, hörten sie die Stimmen dort drinnen. Männer und Frauen sprachen, Kinder weinten. Pferde wieherten. Schnee knirschte. Irgendwo erklang der Hammer eines Schmiedes.
    »Oart«, flüsterte Keer. »Wir sind so gut wie

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