Brans Reise
geschlungen zu haben. Denn im Dunkel der Nacht war das Wasser kalt wie Eis, und nur, weil er seine Füße derart gegen den Querbalken presste, zitterte er nicht am ganzen Körper. Wieder durchschnitt der Bug eine Welle, die ihr Wasser über das Boot warf. Bran wartete, bis sie angehoben wurden, ehe er die Öskanne nahm und Wasser aus dem Boot zu schöpfen begann.
»Frierst du?« Er versuchte, Tir in die Augen zu sehen, während er sich nach vorne lehnte und mit dem offenen Behälter am Kielbalken entlangschabte.
Sie schüttelte den Kopf und zitterte weiter. Er fragte sich, wie alt sie wohl war. So etwas war bei Frauen schwer zu sagen. Ihr Gesicht war sonnenverbrannt, und die dünnen Falten um ihre Augen verrieten ihm, dass sie viel Zeit im Freien verbracht hatte, vielleicht auf dem Meer. Ihre Hände waren braun und die Nägel kurz, aber sie hatte keine Schwielen auf den Handflächen. Ihre Finger waren dünn und ihre Hüften schmal. Er sah, dass sie jung war, wie er selbst, doch wie viele Winter sie erlebt hatte, vermochte er nicht zu schätzen. Er wollte sie fragen, doch dann ließ er davon ab.
Mit welchem Recht wollte er so etwas wissen? Sie begleitete ihn nicht aus eigenem Willen.
Bran drehte das Ruder, als das Boot von einer Welle nach Steuerbord gedrängt wurde. Er schloss die Augen und dachte, der Wind müsse die Gedanken aus seinem Kopf fortgeblasen haben. Er saß da und starrte die verfrorene Gestalt an der Mittelbank an, während die Krieger des Inselkönigs sie mit einem Kriegsschiff verfolgten. Er beugte sich über den Bootsrand, bekam eine Welle ins Gesicht und rieb sich das Wasser aus den Augen. Bei dem Regen war kaum etwas zu erkennen. Vielleicht konnte er besser sehen, wenn es hell wurde. Bran zählte die Boote. Sie segelten jetzt mit weitem Abstand, und die Entfernung zwischen den Booten war größer, als ihm lieb war. Weit im Westen flatterten drei Segel im Wind. Zwei weitere auf jeder Seite seines Bootes. Hagdar war ein Stück vor ihm, Velar einen Steinwurf hinter Brans Boot. Zwei fehlten.
»Hagdar!« Er holte tief Luft und schrie so laut er nur konnte, doch Hagdar hörte ihn nicht.
»Schrei nicht!«, sagte Dielan. Er kroch unter dem Segeltuch hervor und klammerte sich an die Mittelbank. Dort fiel er mit der Brust über die Planke und stöhnte. Schließlich schob er sein Kinn über das Dollbord und erbrach sich. Er ließ sich von den Wellen das Gesicht abspülen, und Bran wusste, dass er darauf keine Rücksicht nehmen durfte.
»Dielan!« Er ließ das Ruder los, packte seinen Bruder an den Haaren und zog ihn hinein.
»Ich bin krank«, klagte Dielan.
Bran setzte sich wieder an den Achtersteven und lenkte das Boot in die richtige Richtung. »Tir!«, schrie er. »Geh und such unter dem Segeltuch Schutz! Dielan braucht seinen Platz nicht mehr!«
Sie blickte auf. Bran versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht, seine zusammengebissenen Kiefer zu lösen.
»Du wirst sonst noch krank. Dielan, hilf ihr!«
Wieder schlug eine Welle in das Boot. Dielan klammerte sich an die Mittelbank und erbrach sich erneut, während das Wasser über ihn spritzte. Bran packte die Kanne und begann zu ösen.
»Neben Gwen.« Er zeigte ihr die Richtung, während eine weitere Welle über das Dollbord schlug. Dann kletterte sie über die Mittelbank und knotete den durchnässten Umhang an den Mastfuß, ehe sie in den Schutz des Segeltuches kroch.
»Ich sterbe«, murmelte Dielan. Bran öste und versuchte sich daran zu erinnern, was Hagdar über die Seekrankheit gesagt hatte. Einmal war er mit ihm beim Aalfischen gewesen und trotz Dünung in eine Flaute geraten. Ja, jetzt erinnerte er sich, was Hagdar damals getan hatte, als er selbst die Wellen in seinem Magen gespürt hatte.
Bran hob den Kopf des Bruders an und schlug ihn mit der flachen Hand. Dielan erbrach sich, doch jetzt rann nur noch Speichel über seine Lippen.
»Übernimm du das Ruder!«, sagte Bran. Er zog seinen Bruder über die Mittelbank, setzte ihn vor den Achtersteven und band das Ruder mit einem Tau um seine Hand. Dann öste er weiter, während sein Bruder wie benommen dasaß. Doch schließlich wurde sich Dielan bewusst, dass er am Ruder saß, und begann zu steuern.
Bran döste. Er lauschte den Stimmen des Windes, die dem Meer ein Lied sangen, und den Wellen, die mit einem Rauschen aus Sehnsucht und Wut antworteten. Wonach es sich sehnte, wusste er nicht, aber die Wellen erinnerten ihn an die Wölfe, denen er zu Hause in der Felsenburg so oft
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