Brans Reise
Hol mir Kleider!«
Tir ließ den Löffel in die Schale fallen und kniff die Lippen zusammen. Dann drehte sie sich um und ging von ihm weg, und Bran bereute es, so mit ihr gesprochen zu haben. Er schloss die Augen und atmete die laue Luft tief ein. Der Brei lag wie ein Klumpen in seinem Magen, und jetzt spürte er auch, wie seine genähten Wunden schmerzten.
Er hob die Decke an, so dass er die Stichwunde auf seinem Oberschenkel betrachten konnte. Sie sah aus wie ein Halbmond und war so lang wie eine Hand. Die Haut war gewachsen, aber noch hellrot und dünn. Er betastete seinen Rücken und war entsetzt, wie lang die Wunde war. Sie führte von seinem Kreuz hinauf bis zwischen die Schulterblätter. Doch auch hier war die Haut gewachsen. Dann hob er den rechten Arm und begutachtete die Pfeilwunde. Zuletzt strich er mit den Fingern über seine Kehle. Dort verriet eine dicke angeschwollene Kruste auf der Haut, wo ihn das Messer verletzt hatte.
»Ich sollte tot sein«, flüsterte er. »Kragg, warum bin ich nicht tot?« Er stand auf und ging zum Fenster hinüber. »Kragg!« Er schrie es in den Himmel, doch es waren keine Raben zu sehen. »Hör mich, Kragg! Warum hast du mich an diesen merkwürdigen Ort gebracht? Soll das das neue Land des Felsenvolkes sein?«
Er erwartete keine Antwort. Wie gewöhnlich blieb der Himmelsvogel stumm. »Ich bin im Land anderer Götter«, murmelte er und ging langsam zurück zum Bett. »Er kann nicht hören, was ich sage.«
Bran sank auf dem Bett zusammen und kämpfte dagegen an, dass der Brei sich wieder nach oben presste. Er fühlte sich schlecht, doch nicht krank. Er musste fort von diesem Ort, er musste die anderen finden und sie wieder hinaus aufs Meer führen.
Da knirschte die Tür.
»Ich hätte nicht so mit dir reden sollen«, sagte er. »Du hast mich gepflegt und ich stehe in deiner Schuld. Aber du musst verstehen, dass ich nicht länger hier bleiben kann. Ich habe ein Volk, das mich zu seinem Häuptling gemacht hat und das auf mich wartet.«
Niemand antwortete. Er spürte, wie die Angst seinen Rücken emporkroch, schlang die Decke um sich und drehte sich zur Tür. Dielan und Hagdar grinsten ihn an.
»Hör doch!« Hagdar legte die Hand hinter sein Ohr. »Er glaubt bestimmt, wir sind so etwas wie eine Schafherde ohne Schäfer. Aber wir sind gut zurechtgekommen, nicht wahr, Dielan?«
Dielan schob seine Hände unter seinen Gürtel. »Ja, es war unser Häuptling, um den wir uns Sorgen gemacht haben.«
»Vielleicht sollten wir wieder gehen?« Hagdar zwinkerte ihm zu. »Diese Tir soll ein süßes Mädchen sein, habe ich gehört. Vielleicht hat der Häuptling gar keine Lust, wieder ganz gesund zu werden, solange sie ihn pflegt!«
»Dielan! Hagdar!« Bran streckte ihnen die Arme entgegen, woraufhin die Decke zu Boden fiel. Hagdar zeigte auf ihn und wieherte vor Lachen, doch Bran schlug die Decke einfach nur erneut um sich und stand auf. Dielan umarmte ihn, und Hagdar klopfte ihm mit flacher Hand auf den Rücken.
»Ich bin vor kurzem aufgewacht. Ich hätte schon längst gehen sollen, aber ich habe keine Kleider.«
»Das macht nichts.« Dielan schob ihn zurück und trocknete seine Tränen. »Du bist gesund, und das ist das einzig Wichtige. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir haben am Hafen unser Lager aufgeschlagen.«
»Die Menschen sind gastfreundlich gewesen«, sagte Hagdar. »Wir haben Zelte und Essen von ihnen bekommen.«
Brans Kopf wurde ganz warm. »Setzt euch.« Er deutete auf den Stuhl und machte neben sich auf seinem Bett Platz. »Erzählt mir, was geschehen ist. Tir hat mir gesagt, ich sei in einer Stadt in Ar. Aber ich begreife nicht, wie ich hierher gekommen bin.«
Hagdar zog den Stuhl vors Bett, setzte sich und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. »Das solltest du ihm wohl erzählen, Dielan.«
Und Dielan berichtete ihm von der Reise über das Meer nach Süden und von dem Gift in seinen Schnittwunden, das ihn beinahe getötet hätte. Er erzählte von Nangor, der ihnen den Kurs angegeben hatte. Niemand hatte ihn gesehen, seit er sie verlassen hatte, um beim Seeheer anzuheuern. Er erzählte von der versunkenen Insel und wie sie von den Tirganern aufgenommen worden waren. Und er sprach von Tir, der Galuene.
»Zuerst habe ich geglaubt, sie sei die Dienerin eines bösen Gottes.« Dielans Blick verfinsterte sich, als er sich an den Steinaltar und das Götterbild zurückerinnerte. »Aber mittlerweile hat sie mein volles Vertrauen, denn jeden Tag kam ein Bote von
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