Brans Reise
bewegten sich, doch es gelang ihm nicht, die ihren festzuhalten. Wieder zuckte es durch seine Schläfe. Er drehte den Kopf zur Seite und Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Sie wischte ihn weg und legte das Tuch auf seine Stirn. Da glitten die Schmerzen von ihm weg. Der Mund hinter dem Bart öffnete sich und seufzte.
Tir schob den Stuhl zurück und trat an die Wand neben der Tür. Dort öffnete sie eine Kiste, wühlte zwischen Leinzeug und Kerzen herum, bis sie das scharfe Messer fand. Es sah aus wie das Jagdmesser, mit dem Bran gekämpft hatte, doch dieses war mit Sandstein und Leder geschliffen worden. Sie nahm eine zusammengerollte Decke mit, setzte sich wieder auf den Stuhl und schob sie ihm unter den Nacken.
»Verzeih mir.« Sie legte die Klinge des Messers an seine Wangen. »Ich hoffe, dass ich dir oder deinem Gott kein Unrecht tue.« Mit ruhiger, gleichmäßiger Bewegung rasierte sie ihm den Bart bis zum Kinn ab. Sie neigte den Kopf zur Seite und hielt den seinen über der Stirn fest, während sie die Haare wegbürstete und sich mit dem Messer über die Kieferknochen zur Unterseite seines Kinns vorarbeitete. Mit jeder Klingenbreite Bart, die verschwand, wurde er jünger. Sie hatte geglaubt, er sei mindestens zehn Winter älter als sie, doch als sie auf der anderen Seite des Bettes niederkniete und die letzten Reste seines Barts abrasierte, sah sie, dass das nicht stimmte. Die Haut an seinem Kinn war weich wie die eines Kindes. Sie strich mit der Fingerkuppe unter seiner Nase entlang, um den halb geöffneten Mund herum und über das Kinn den Hals hinunter. Dann führte sie ihre Hand wieder nach oben und legte sie auf seine Wange. Lange saß sie da und starrte die geschwungenen Lippen an, bis sie es wagte, sie zu berühren. Sie waren kalt.
Da stand sie vom Bett auf und ging zum Fenster. Sie leerte die Schüssel aus, schloss die Augen und ließ sich von der Brise das Gesicht kühlen. Der Wind trug ihr den Geruch von Fisch und Häuten, glühendem Metall vom Hafenschmied und gärendem Kornbräu zu. Sie erinnerte sich an eine Begebenheit, als sie noch ganz klein gewesen und mit Vater nach unten gegangen war. »Kauft ein Amulett für das kleine Mädchen!«, riefen die Händler aus Nia. Die Besucher von den Inseln wollten, dass sie sich im Perlmutt auf der Innenseite der Muschelschalen spiegelte. Und Vater wollte ihr eine Muschel kaufen, die sie daheim, oben im Turm, wo sie ihr eigenes Zimmer hatte, auf den Tisch stellen konnte.
Tir beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Fensterrahmen. Noch immer hörte sie seine Stimme. Wie warmherzig und sanft Vater damals gewesen war. Sie saßen daheim um den Tisch herum, brieten Fisch auf dem Rost über dem Kamin und würfelten. Sie war damals noch keine Galuene. Sie war ein Kind. Sechzehn Winter hatte sie erlebt, als sie Silak begegnete, der genauso war wie die Helden in den Sagen. Blonde Haare, groß und stark. Wenn Silak lachte, lachten auch all die anderen Jungen um ihn herum. Sogar Vater mochte ihn.
»Wie alt bist du?«, fragte Vater am ersten Abend, als Silak zu ihr nach Hause kam. Die zwei sprachen über Schwerter und Seile, und Vater hatte ihm einen Krug seines bestens Bieres eingeschenkt.
»Achtzehn Winter«, antwortete Silak.
Sie saß ganz oben auf der Treppe und beobachtete die beiden durch die Geländerstäbe hindurch.
»Das ist ein gutes Alter«, erwiderte Vater. »Sag mir Silak, was hältst du davon, Tileder zu werden, Befehlshaber von zehn Kriegern?«
»Verantwortung für zehn Krieger? Aber ich war ja nie zuvor im Krieg.«
»Meine Tochter mag dich, Silak. Und in dieser Familie kümmern wir uns um die unsrigen. Ich werde mit meinem Bruder Visikal sprechen.«
Tir richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Langschiffe lagen noch immer an ihren gewohnten Plätzen im Innern des Hafens vor Anker. Dort unten hatte sie gestanden. Sie konnte die Steinplatte erkennen, auf die sie geklettert war, um ihn zu sehen, als sie hinausruderten. Auf der gleichen Steinplatte hatte sie gestanden, als sie sie nach dem Krieg zurückerwarteten. Sie hatte sich die Hand über die Augen gehalten, um die Frühlingssonne abzuschirmen, doch er kam nie wieder zurück. Er war einer der zahllosen Gefallenen, und Visikal hatte seine blutbefleckten Arme um sie gelegt und gesagt, er sei mit Ehre gestorben.
Während sie so dastand, wachte Bran auf. Er roch Lilien und glaubte, es sei Frühling und dass er in den Bergen Schafe hütete. Gewöhnlich
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