Brasilien: Ein Land der Zukunft
wieder zum Norden und quer durch das Land unternommen, so ergeben schon diese Inspektionsfahrten Hunderte und vielleicht Tausende Nächte voll Sorge und Gefahr. In all diesen Jahren ist er Gouverneur neben dem Gouverneur, Lehrer über und neben den Lehrern, Städtegründer und Friedensstifter, und so gibt es kein wichtiges Geschehnis in der damaligen Geschichte Brasiliens, das nicht mit seinem Namen verbunden wäre. Die Wiedergewinnung des Hafens von Rio de Janeiro, die Gründung von São Paulo und Santos, die Befriedung der feindlichen Stämme und die Errichtung der collegios, die Organisation des Unterrichts, die Errettung der Einheimischen vor der Sklaverei sind in erster Linie seine Tat. Überall war er im Beginn; mögen die Namen seiner Schüler und Nachfahren Anchieta und Vieira im Lande späterhin populärer geworden sein als der seine, so sind sie doch nur Fortentwickler seiner Idee gewesen. Wo sie bauten, fanden sie schon das Fundament. In der Geschichte Brasiliens, dieser »obra sem exemplo na historia« [dieser in der Geschichte beispiellosen Tat], war es Nóbregas Hand, die das erste Blatt beschrieb, und jeder Zug dieser energischen und festen Hand ist unauslöschlich geblieben bis in die Gegenwart.
Die ersten Tage nach der Ankunft widmen die Jesuiten der Rekognoszierung der Situation. Ehe sie lehren, wollen sie lernen, und sofort macht einer der Brüder sich ans Werk, um möglichst schnell die Sprache der Eingeborenen zu meistern. Daß die Eingeborenen sich noch auf dem tiefsten Tiefstand der nomadischen Epoche befinden, zeigt schon der erste Blick. Sie gehen völlig nackt, kennen keine Arbeit, haben weder Schmuck noch das primitivste Gerät. Was sie zum Leben brauchen, holen sie von den Bäumen oder aus den Flüssen, sobald eine Gegend abgegrast ist, ziehen sie weiter. An sich eine gutmütige und sanfte Rasse, führen sie Krieg untereinander nur, um Gefangene zu machen, die sie dann unter großen Festlichkeiten verzehren. Aber auch dieser kannibalische Brauch stammt nicht aus einer besonderen Grausamkeit ihrer Natur; im Gegenteil, diese Barbaren geben dem Gefangenen noch ihre Tochter zur Frau und hegen und pflegen ihn, ehe sie ihn schlachten. Wenn die Priester versuchen, sie des Kannibalismus zu entwöhnen, so stoßen sie mehr auf verwundertes Erstaunen als auf wirklichen Widerstand, denn diese Wilden leben noch völlig jenseits jeder kulturellen oder moralischen Erkenntnis, und Gefangene zu verzehren bedeutet für sie nichts als ein ebenso festlich unschuldiges Vergnügen wie Trinken, Tanzen oder mit Frauen Schlafen.
Dieser ungeheure Tiefstand der Lebenshaltung scheint zunächst eine unüberwindliche Hemmung für das Werk der Jesuiten, in Wirklichkeit aber erleichtert er ihnen ihre Aufgabe. Denn da diese nackten Wesen überhaupt keine religiösen oder sittlichen Vorstellungen besitzen, ist es viel leichter, ihnen welche beizubringen als Völkern, bei denen ein eigener Kult schon vorwaltet und wo Zauberer, Priester und Schamanen dem Missionär mit Erbitterung entgegentreten. Die brasilianische Urbevölkerung dagegen ist ein »unbeschriebenes Blatt«, ein »papel branco«, wie Nóbrega sagt, das weich und gefügig die neue Vorschrift aufnimmt und jeder Belehrung vollen Raum läßt. Überall empfangen die Eingeborenen die »brancos« [die Weißen], die Priester, ohne jedes Mißtrauen: »Onde quer que vamos, somos recebidos com grande boa vontade« [Überall, wo wir hinkamen, wurden wir gerne empfangen]. Sie lassen sich ohne Zögern taufen und folgen – warum auch nicht? – den Priestern, den »guten Weißen«, die sie vor den andern, den »wilden Weißen« schützen, willig und dankbar in die Kirche. Selbstverständlich wissen die Jesuiten als gelernte und immer wache Realisten, daß diese träge, gedankenlose Zustimmung, das Niederknien und Kreuzeschlagen von Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçá erleben sie gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, also die kommenden Generationen,
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