Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
und Sie sehr bitten, ob Sie statt dessen einen Anorak für mich nähen würden. Ich habe nämlich von meiner Tante einen Stoff geschenkt bekommen, und ich will ins Gebirge.“
Er legte einen herrlich blauen Popelinestoff vor mich hin.
„Ja“, meinte ich, „das kann ich bestimmt. Das heißt, wenn Sie eine Leiter im Hause haben, denn sonst weiß ich nicht, wie ich bei Ihnen Maß nehmen soll!“
Da lachten wir beide. Ich trank meinen Kaffee aus und stieg dann auf einen Schemel, um Maß zu nehmen. Bald darauf war ich bereits mit Schneiderkreide und Schere an der Arbeit.
Woher in aller Welt war plötzlich dieser Neffe aufgetaucht? fragte ich mich. Was war er und was tat er in dieser Welt? Wie war es möglich, daß ein junger Mann, der geradezu vor Gesundheit und Kraft strotzte, sich in der Wohnung seiner Tante in Heirevik herumtrieb, anstatt sich seinen Lebensunterhalt in einer Werkstatt oder in einem Büro zu verdienen?
Als Frau Grather unter tausend Entschuldigungsworten wegen der Verspätung das Haus betrat und ihrem Redeschwall freie Bahn ließ, erhielt ich die Erklärung.
„Ja, Sie waren wohl erstaunt, als Ihnen mein Neffe heute die Tür öffnete? Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, auch einmal etwas für einen Mann zu nähen. Sie hätten nur seinen alten Anorak sehen sollen, verschmiert mit Skiwachs und weiß Gott was, und da habe ich zu Asbjörn gesagt, Montag kommt Fräulein Bruland, habe ich gesagt, da werden wir sie bitten, für dich zu nähen - ja, ich habe ihm erzählt, wie tüchtig Sie sind, denn das sind Sie, Fräulein Bruland, und vielleicht haben Sie etwas später im Monat noch einen Tag Zeit für mich - verstehen Sie, Asbjörn hat keine Eltern mehr und hat früher bei uns gewohnt, das heißt, bevor mein Mann starb, und jetzt hat er in Deutschland studiert - ich meine Asbjörn, und Sie können mir glauben, daß er ein sehr gutes Examen gemacht hat - aber jetzt ist er sehr erschöpft und müde und soll sich richtig ausruhen, das soll er, ja, er ist so begabt, das liegt in der Familie meines Mannes...“
Der Redestrom ging unaufhörlich weiter, und ich heftete derweil, und als schließlich eine Pause eintrat, weil Frau Grather Atem holen mußte, fragte ich, ob der Neffe die Schultern gepolstert haben wollte.
„Asbjörn, willst du die Schultern gepolstert haben?“ rief Frau Grather ins Nebenzimmer hinüber. Asbjörn erschien in der Tür.
„Meinen Sie nicht, daß meine Schultern breit genug sind?“ fragte er lächelnd.
„Doch“, antwortete ich. „Was die Schulterbreite betrifft, schlagen Sie unter meinen Kunden alle Rekorde. Aber als Skiläufer werden Sie wohl hin und wieder die Skier auf den Schultern tragen - und vielleicht haben Sie auch einen Fotoapparat oder etwas anderes Schweres.“
„Richtig! Beides trifft zu! Ja, danke, ich stelle mich also positiv zu Ihrem Vorschlag.“
„Dann brauche ich aber etwas Schaumgummi.“
„Ich gehe schon. Sagen Sie mir nur genau, was ich verlangen soll.“
Ich erklärte es ihm und bat ihn, gleichzeitig Reißverschlüsse zu besorgen.
Frau Grather ging in die Küche hinaus, und ich setzte mich an die Nähmaschine und nähte meterweise genaue, doppelte Nähte, denn ein solcher Anorak muß einiges aushalten.
Selten hatte mir die Arbeit solche Freude gemacht wie an diesem Tag. Die Frühlingssonne schien zum Fenster herein, und der blaue Stoff war schön fest und so gut zu verarbeiten. Ich wußte nicht warum, aber solch einen Männeranorak zu nähen, machte mir mehr Spaß als ein kleingeblümtes Sommerkleid für Frau Grather.
Was mochte Asbjörn in Deutschland studiert haben? Auch dieses Rätsel wurde gelöst.
„Ist die Polsterung zu dick?“ fragte ich, als er den Anorak anprobierte. Ich stand auf meinem Schemel und schob den Schaumgummi auf seinen Schultern zurecht.
„Warten Sie mal, ich werde es ausprobieren“, erwiderte er, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer großen, vierkantigen braunen Tasche zurück, die er sich über die Schulter hängte. Sie drückte sich kräftig in die Polsterung ein.
„Wenn Sie mit einem solchen Gewicht herumlaufen, sollte ich die Einlage wohl etwas dicker machen“, sagte ich und schob ein dickes Stück Schaumgummi unter.
„Es bleibt mir kaum etwas anderes übrig“, erklärte Asbjörn. „Ich trabe sozusagen mit meinem Beruf auf der Schulter herum, verstehen Sie. Eine Filmkamera“, fügte er hinzu.
„Ach, sind Sie Kameramann beim Film?“
„Ja, das bin ich.“
„Ich habe immer geglaubt,
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