Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
nähen gehen. Ich trabte also in der Frühlingssonne los und wünschte mir eigentlich, in den Wald gehen und Anemonen pflücken zu dürfen; es graute mir ein wenig davor, Frau Grather zu beraten, was sie anziehen sollte, und mir ihr Geschwätz anhören zu müssen. Frau Grather war nämlich stets sehr redselig. Wohl war sie nett und freundlich, aber wenn es ein Haus gab, in dem ich auf das achtete, was ich sagte, so gewiß dort. Bevor ich als Hausschneiderin anfing, hatte Mutti gesagt: „Erzähl niemals etwas, das du nicht auch der ganzen Stadt erzählen könntest. Du weißt doch, wieviel getratscht und geklatscht wird, und eine Schneiderin, die von Haus zu Haus geht, wird leicht zum Gesprächsthema, denn alle kennen sie. - Und noch eins, Benny: Leg dir selber Schweigepflicht auf! Erzähl niemals einer Kundin etwas von einer anderen! Laß es niemals dahin kommen, daß eine Kundin sagt: ,Das habe ich von unserer Schneiderin gehört.’“
Mutter hatte mir schon so manches Kluge gesagt, und ich versuchte, nach ihrem Rat zu leben. Wie richtig war es, was sie mir gesagt hat! Denn wenn ich dort mitten in einer Familie saß, war es gar nicht zu vermeiden, daß ich Einblick in manches erhielt, in glückliche und unglückliche Schicksale, gar nicht zu reden von wirtschaftlichen Verhältnissen.
So hielt ich also den Mund.
Im übrigen war Frau Grather eine von den Kundinnen, bei denen es Spaß machte zu arbeiten. Sie hatte nämlich einen Schwager oder Vetter oder was er nun sein mochte, der eine große Weberei betrieb und recht freigebig mit Geschenken war. Wies ein Stoff einen kleinen Webfehler auf, so bekam ihn Frau Grather, und meine schöne Aufgabe war es dann, ihn so zu verarbeiten, daß der Webfehler durch ein listiges Volant oder eine kunstvoll angebrachte Falte verdeckt wurde.
Als ich bei Frau Grather geklingelt hatte, hörte ich drinnen schnelle Schritte, aber sie klangen ganz anders als das Getrippel, das ich sonst vernahm. Die Tür wurde geöffnet, und ich stand nicht der mageren, kleinen Frau Grather gegenüber, sondern einem Riesen von fast zwei Metern - einem blonden blauäugigen Hünen.
„Guten Tag“, sagte ich.
„Guten Tag“, antwortete der Riese und sah mich unsicher an. „Wollen Sie vielleicht zu Frau Grather?“
„Ja, deswegen habe ich geklingelt“, sagte ich. Da lächelte der Riese, und ich lächelte ebenfalls.
„ Frau Grather ist nämlich im Augenblick nicht zu Hause.“
„Nicht zu Hause? Aber sie hat mich doch für heute herbestellt...“ „Herbestellt?“ wiederholte der Riese und betrachtete aus blauen, fragenden Augen mich kleine Portion. „Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie die Schneiderin sind?“
„Doch, das möchte ich allerdings mit größter Bestimmtheit behaupten“, entgegnete ich.
„Entschuldigen Sie, kommen Sie doch bitte herein. Meine Tante wird bald wieder da sein, sie wollte nur noch eine Besorgung machen. Ich dachte, Sie wären höchstens fünfzehn Jahre alt. Ich hatte mir eingebildet, eine Hausschneiderin sähe ganz anders aus.“ Ich mußte lächeln. Für mich war das nichts Neues. Es ist heutzutage ohnehin oft nicht leicht, eine Fünfzehnjährige von einer Zwanzigjährigen zu unterscheiden, und außerdem bin ich die Miniaturausgabe einer Schneiderin, denn ich messe nur 1,56 - in Strümpfen.
Der Riese nahm meine Jacke und hängte sie auf.
„Treten Sie doch näher, das Frühstück für Sie steht schon bereit, und meine Tante hat mich beauftragt, für Sie Kaffee zu kochen. Stark oder schwach?“
„So wie Sie es immer machen, bitte. Ich esse alles und trinke alles, Herr.?“
„Ach, entschuldigen Sie. Grather. Asbjörn Grather. Neffe dieses Hauses und zu Besuch hier.“
„Benny Bruland.“
„Ja, das wußte ich schon.“ Er hielt mir die Tür zum Wohnzimmer auf. „Nehmen Sie einen Augenblick Platz, der Kaffee kommt sofort!“
Im Wohnzimmer fanden sich weder Modejournale noch Stoffe. Sonst waren beide massenhaft überall ausgebreitet, wenn ich kam. Aber wahrscheinlich würde Frau Grather bald erscheinen, und in der Zwischenzeit konnte ich frühstücken.
Asbjörn trat mit dem Tablett in die Tür. Nachdem er mir Kaffee eingeschenkt hatte, fragte er unvermittelt:
„Können Sie einen Anorak nähen?“
„Einen Anorak? Ja, das hoffe ich doch!“
„Ich auch. Ich muß Ihnen nämlich ein Geständnis machen. Meine Tante hat Sie mir sozusagen geschenkt. Sie ist bereit, mit ihrem Sommerkleid bis zum nächsten Mal zu warten, und ich soll Sie grüßen
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