Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
und sie flogen recht oft zu dem blauäugigen Kameramann. Wo mochte er sein? Er wollte ins Gebirge, hatte er gesagt - vielleicht kraxelte er in Jotunheim umher oder in Rondane und filmte Rentierherden, Sonnenaufgänge und schneebedeckte Gipfel.
Und dann wanderten meine Gedanken zu anderen Bergen, zu meinen Bergen - zur Aiguille d’Or oder zur Aiguille d’Argent - zur Goldnadel oder Silbernadel, die sich hoch, spitz und schimmernd über Villeverte erhoben. Meine geliebten Berge, in denen ich seit meinem zwölften Lebensjahr in Onkel Ferdinands Schlepptau umhergewandert war. Ja, denn Onkel Ferdinand ist Bergführer und kennt das Gelände um Villeverte herum wie seine eigene Tasche. „Komm doch mit, Bernadette“, sagt Onkel Ferdinand, wenn er nur zwei bis drei Touristen zu führen hat. „Das Seil ist lang genug, und außerdem kennst du unsere Berge ja so gut, daß du mir nicht in eine Spalte stürzt.“
So trabe ich also oft mit. Zuweilen helfe ich auch Onkel Ferdinand beim Tragen. Denn man sollte nicht meinen, wieviel die Touristen in seinen Rucksack stopfen. Manchmal übernehme ich den Proviant, während Onkel Ferdinand sich mit schweren Fotoapparaten und Filmkameras abschleppt - die übrigens immer noch leichter sind als das schwere Biest, das Asbjörn hatte.
Da haben wir’s! Schon war ich wieder bei Asbjörn.
Die Tage flogen dahin, und endlich war Schluß mit dem Nähen. Es war herrlich, die Plackerei hinter sich zu haben. Zu wissen, daß meine Kundinnen in meinen sommerlichen Wunderwerken umherscharwenzelten, daß meine Wohnung abgeschlossen war, daß es auch Mutti gutging und sie vergnügt war.
„Möglicherweise reisen wir später im Sommer nach Süden“, sagte meine Mutter. „Thomas hat von einer Ausstellung in Düsseldorf gesprochen; vielleicht verbinden wir das mit einem Urlaub von vierzehn Tagen.“
„Und dann verabreden wir uns an einem Punkt an der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz“, rief ich lachend. „Du mußt mir nur rechtzeitig schreiben, wann ihr abreisen und wie weit nach Süden ihr fahren wollt.“
Damit umarmte ich Mutti, drückte Onkel Thomas die Hand und zog meines Weges.
Ich saß im Flugzeug und lächelte beim Gedanken, wie viele großgeblümte Sommerkleider, wie viele Blusen und Strandanzüge ich nähen mußte, bis ich genug Geld für die Flugkarte beieinander hatte. Gewiß, ich besaß auch noch etwas auf der Bank, das Geld aus Italien. Das Geld, das mein Vater auf sehr viel gefährlichere Weise verdient hatte. Geld, für das er am Ende mit seinem Leben hatte bezahlen müssen.
Ich war bisher erst ein einziges Mal geflogen, und ich drückte meine Nase ans Fenster. Ich begreife nicht, wie es Menschen geben kann, die beim Fliegen lesen oder Geschäftspapiere durchsehen, wie der dicke Mann neben mir es tat!
In Düsseldorf machten wir eine Zwischenlandung, und bald darauf strömte der Rhein unter uns dahin - der Rhein mit weißen Schiffen und langen, schweren Lastkähnen, der Rhein mit Weinbergen, Riffen im Strom und Burgruinen an den Ufern.
Eines Tages wollte ich auch eine Fahrt auf dem Rhein machen. Ich wollte alles aus nächster Nähe betrachten, was ich nun aus der Luft sah. Ich wollte mir den Loreleifelsen anschauen und den Kölner Dom - einmal würde ich Villeverte im Stich lassen, um ein wenig mehr von Europa zu sehen. Denn das ließ sich nun einmal nicht leugnen - diese alljährlichen Reisen nach Villeverte waren schuld daran, daß ich niemals etwas anderes zu sehen bekam - mein Dasein war ein ständiges Hin-und-Her-Pendeln zwischen Villeverte im Wallis und Heirevik in Norwegen.
Einmal würde ich in große, berühmte Städte reisen. Eines Tages würde ich Schlösser, Museen, breite Straßen und prächtige Kirchen sehen, Kunstwerke und Bilder. Ich, die ich nichts weiter als die Nationalgalerie in Oslo kannte, aber Farben liebte und Kunstbücher sammelte. Wie gern hätte ich alle diese Dinge im Original erlebt, diese wunderbaren Bilder aus meinen Büchern. Ich wollte auch in den Louvre und die Mona Lisa sehen - ich wollte nach London und die National Gallery kennenlernen - und ich wollte nach Colmar, zum Isenheimer Altar. Colmar war noch am leichtesten von Villeverte aus zu erreichen, das könnte ich vielleicht schaffen.
Vielleicht konnte ich mich dort mit Mutti und Onkel Thomas treffen?
Ich glaube, Tony war es, der mir die Augen für die Malerei öffnete. Tony ist der Sohn eines Kunstmalers und lebt in Villeverte. Es ist allerdings nicht so, daß Tony und
Weitere Kostenlose Bücher