Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss
Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Kommen Sie«, sagte ich. »Wir wollen sehen, was wir für Sie tun können.«
Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, dann fiel sie plötzlich zusammen. Hätte Pierre sie nicht aufgefangen, wäre sie lang hingeschlagen.
»Sie hat ja Fieber«, sagte Pierre. »Ihre Hände glühen. Nimm den Beutel, Britta.«
Er trug sie auf seinen Armen nach Hause, ich trottelte mit dem Beutel hinterher. Mein Herz war bis zum Rande voll Mitleid. Das Mädchen hatte so unsagbar einsam ausgesehen, so elend, so hilflos, ein einziges Häufchen Unglück. Ich mußte an mich denken, damals als ich in Paris mutterseelenallein und fieberkrank war, damals als Tante Edda plötzlich kam und alles in ihre guten, mütterlichen Hände nahm, mich gesundpflegte und bei mir blieb, solange ich sie brauchte.
Zu Hause brauchten wir nicht viel zu sagen. Wenn ein einsames Mädchen auf der Straße in Ohnmacht fällt, wenn es offensichtlich krank ist, dann sind nicht viele Worte nötig. Dann heißt es handeln.
»Sie muß ins Bett«, sagte Vati. »Aber wo?«
»Ich nehme sie zu mir«, entgegnete ich. »Ach, Bernadette, sei so lieb und bezieh die Couch in meinem Zimmer! Nimm mein Oberbett, ich hole mir nachher ein anderes.«
Bernadette lief zum Wäscheschrank. Pierre hatte die Fremde im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt. Sie war nun bei Bewußtsein, aber vollkommen apathisch. Ein paarmal versuchte sie, etwas zu sagen, brachte aber nur ein unverständliches Flüstern hervor.
Ich zog ihr Schuhe und Strümpfe aus. Ihre Füße waren eiskalt. Ellen lief in die Küche und machte eine Wärmflasche zurecht.
Ich deckte sie mit einem Plaid zu.
»Nur ein paar Minuten«, sagte ich. »Dann kommst du ins Bett.«
Eine halbe Stunde später lag das Mädchen warm gebettet auf der Couch in meinem Zimmer. Es hatte einen Schlafanzug von mir an, eine Wärmflasche an den Füßen; auf das Oberbett hatte ich noch eine Decke gelegt. Trotzdem zitterte der Körper wie vor Kälte.
»Wir müssen ihr die Temperatur messen«, sagte Tante Edda.
Ich knöpfte die Pyjamajacke auf und steckte ihr das Thermometer in die Achselhöhle. Sie ließ alles geschehen; sie war vollkommen erschöpft und uns hilflos ausgeliefert.
Dann las ich die Temperatur ab und reichte das Thermometer wortlos Tante Edda: 39,5.
Tante Edda nickte stumm, ging leise aus dem Zimmer und zum Telefon.
Ich saß still da und betrachtete das Mädchen. Die Haare hatte ich ihm mit einem Frottiertuch getrocknet und aus dem Gesicht gekämmt. Wo hatte ich dieses Mädchen nur schon einmal gesehen? Etwas an ihm kam mir bekannt vor. Doch woher und von wann? Die Fremde machte die Augen auf, sah mich an. Ich ging zu ihr. »Möchtest du etwas? Kannst du es mir zuflüstern?« Ihre Lippen bewegten sich. »Danke.«
Es war das erste Wort, das ich von ihr hörte. »Nichts zu danken. Kann ich dir was bringen? Möchtest du etwas trinken?«
»Ja«, flüsterte sie.
Ich gab ihr lauwarmen Tee löffelweise. Sie konnte nur winzige Mengen schlucken.
»Wie heißt du?« fragte ich. »Ich bin Britta Dieters.« Wieder bewegte sie die Lippen und flüsterte, kaum hörbar: »Marion«.
Unser Arzt ist Vatis Freund und Skatbruder, und für mich war er seit eh und je »Onkel Doktor«. Er hat mich heil durch eine Reihe Kinderkrankheiten gelotst, mir ein Loch im Kopf geklammert, meine ... zigmal aufgeschlagenen Knie verbunden, hat geschimpft und getröstet, je nachdem, und mir manchmal ein Bonbon zugesteckt, wenn ich brav war und nicht geweint hatte.
Jetzt horchte er mit dem Stethoskop an Marions Brust, während ich sie stützte.
Dann guckte Onkel Doktor ihr in den Hals, und sie durfte wieder zurück ins Bett sinken. Ich deckte sie zu, und sie blickte den Arzt fragend an.
»Ja, Mädchen, Sie haben eine tüchtige Angina und müssen ein paar Tage hübsch im Bett bleiben. Nicht so entsetzte Augen machen; hier im Hause werden Sie anständig gepflegt, nicht, Britta?«
Ich nickte eifrig.
»Bei uns auf dem Seehundsrücken ist es nämlich nicht üblich, fieberkranke Patienten vor die Tür zu setzen. So, jetzt verschreiben wir Ihnen was Schönes. Sie machen die Augen zu und schlafen sich gesund. Morgen sieht alles besser aus, nicht, Britta?« Wieder nickte ich. Dann ging ich mit Onkel Doktor rüber ins Wohnzimmer.
»Ist das aber ein armes Dingchen«, sagte Onkel Doktor. »Na, erst mal das Rezept. Wie heißt das Mädchen eigentlich?«
»Marion«, sagte ich.
»Das dürfte nicht ganz ausreichen. Kannst du nicht ausfindig machen,
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