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Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss

Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss

Titel: Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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Tante Edda sagte langsam und sinnend:
    »Was geht wohl in einem solchen Köpfchen vor? Wie hat sie sich die Zukunft gedacht? Ob sie in Panik losgerannt ist? Und warum nicht zu irgendeinem Freund oder einer Freundin? Ihre Bekannten sind bestimmt gerissen genug, um ihr zu einem Versteck zu verhelfen. Oder hat sie gar keine Freunde, auf die sie sich wirklich verlassen kann?«
    »Ich glaube«, sagte Pierre, und plötzlich sprach er französisch, wie er es oft tut, wenn er ganz intensiv nachdenkt, »ich glaube, das alles kann mit einem Satz ausgedrückt werden: Die Kleine ist einsam. Ganz fürchterlich einsam.«
    Ich hatte mir dieses Wochenende mit Pierre ganz anders vorgestellt.
    Wenn mir jemand im voraus gesagt hätte, ich sollte den Sonntag mit der Pflege einer kleinen Verbrecherin verbringen, hätte ich es für unmöglich gehalten.
    Kleine Verbrecherin - ja war sie das wirklich? Was hatte sie dazu getrieben, sich diesem Halbstarkenkreis anzuschließen? War das einsame kleine Wesen, das dort auf Omis Couch lag, ein schlechter Mensch?
    Als ich sehr spät in der Nacht zu ihr hineinkam, schlief sie. Ich blieb stehen und sah sie an. Ja, sie war ein Bild der Einsamkeit, der unglücklichen Verschlossenheit. Drei Worte waren über ihre Lippen gekommen: »Danke« und »Marion«. Und einmal ein geflüstertes »Ja«.
    Ich fing an, mich lautlos auszuziehen. Als ich in den Schlafanzug schlüpfte, rührte sie sich. Sie machte die Augen auf und sah mich an.
    »Na, Marion, fühlst du dich besser?«
    »Ich... ich wollte... ich muß .«
    Ich verstand.
    »Komm, ich zeige es dir. Nur eben über den Korridor.
    Hier, zieh meinen Bademantel an.«
    Ich wartete vor der Toilette und legte den Arm um sie, als sie zurückkam.
    »Stütze dich auf mich. Frierst du noch?«
    »Nein. Mir ist es so warm.«
    »Ja, das kenne ich. Du hast Fieber. Warte mal, ich werde dir das Kissen aufschütteln. So, da hätten wir es. Dann husch ins Bettchen -und schön zudecken. Liegst du gut?«
    »O ja. Ja - danke.«
    »Das Gefühl kenne ich, kann ich dir sagen. Mir ging es einmal genauso mies! Ich war sogar mutterseelenallein dabei. Bis meine Tante Edda kam und mich pflegte. Von ihr habe ich es gelernt.«
    »Hast du eine so nette Tante?«
    »Und ob ich das habe. Du hast sie übrigens gesehen - vorhin im Wohnzimmer.«
    »Ich dachte, sie sei deine Mutter.«
    »Nein, sie ist meine Tante. Nicht einmal meine richtige Tante, ich nenne sie nur so. Aber ich habe sie ganz schrecklich lieb. Nein, ich habe keine Mutter, Marion.«
    Marion richtete die Augen auf mich, und in diesem Augenblick sah ich, was für hübsche Augen sie eigentlich hatte. Groß, dunkel -und mit einem Ausdruck - ja, Pierre hätte gesagt, mit einem Ausdruck der Einsamkeit.
    »Ich auch nicht«, flüsterte Marion.
    Sie machte die Augen zu und schwieg. Ich drückte ihre Hand und sagte leise:
    »Gute Nacht, gute Besserung.«
    Sie sagte nichts, aber ihre schmale, fieberheiße Hand beantwortete den Händedruck.
    Schon am nächsten Tag ging es ihr viel besser. Das Fieber war gesunken, und sie konnte den Haferschleim mit Sahne trinken, den Tante Edda ihr zubereitet hatte.
    »Ich muß dich jetzt etwas allein lassen, Marion«, sagte ich, als ich sie gewaschen und ihr das Bett gemacht hatte. »Soll ich dir etwas zu lesen bringen? Oder magst du nicht?«
    »Ach. ich weiß nicht. ja, doch, bitte, irgendwas.« Ich hatte den Eindruck, es wäre ihr vollkommen gleichgültig und ich könnte ihr Shakespeares Sämtliche Werke, ein Kinderbuch oder das Telefonbuch bringen. Ich wählte eine vierte Möglichkeit: Aus Vatis Bücherschrank holte ich von ganz unten Jules Vernes »Geheimnisvolle Insel« hervor.
    »Kennst du dies, Marion? Nicht? Das ist ja fein. Es ist schrecklich spannend!«
    Bei dem Wort »spannend« streckte sie die Hand nach dem Buch aus. Nachmittags kam der Onkel Doktor wieder und war sehr zufrieden mit der Patientin.
    »Ich glaube, ich schicke künftig meine Patientinnen in Brittas Privatklinik«, schmunzelte er. »Das geht ja großartig, kleine Dame. Bald sind wir wieder schön senkrecht auf den Beinen.«
    »Kann ich morgen.«, begann Marion.
    »Ja, gewiß. Morgen können Sie vielleicht ein Stück weiches Brot essen. Das wollten Sie doch fragen? Sie bleiben nun mindestens vier oder fünf Tage im Bett. Mit einer solchen Angina ist nämlich nicht zu spaßen. Und wann Sie dann ein bißchen an die Luft dürfen, na, das werden wir sehen. Nur weiter so, meine Deern, bis jetzt geht es glänzend! Ich gucke morgen wieder

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