Braut der Nacht
blinzeln. Mit zwei langgliedrigen Fingern tippte er sich gegen die volle Unterlippe, als grüble er über einen verschwommenen Gedanken nach, doch immer noch blieb sein Blick unverwandt auf mir. Etwas mit meinem Mund? Ich presste die Lippen zusammen.
Scheiße. Meine Fangzähne waren immer noch draußen.
Ich zwang die verdammten Dinger, sich zurückzuziehen, und Tatius’ Griff um meinen Arm verstärkte sich. Er schüttelte mich.
»Ich fragte: Was ist passiert?«
»Ich habe sie an der Schulter berührt, das war alles.«
»Sollen wir mal raten, warum?«, ertönte eine glockenhelle Stimme von irgendwo aus der Masse der Vampire heraus.
Ich biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, mir die Hand vor den Mund zu halten. Meine Fangzähne waren zwar nicht mehr sichtbar, das wusste ich, dennoch war es für niemanden auf der Galerie ein großes Geheimnis, was mich dazu bewogen hatte. »Sie roch nach Blut«, murmelte ich vor mich hin.
Ich hätte es besser wissen sollen. Vampire hatten ein ausgezeichnetes Gehör.
Die Frau in dem goldbesetzten Kleid zog eine geschwungene, mit Strass-Steinchen verzierte Augenbraue hoch. »Ich denke, in dieser Menge wäre der Geruch von Blut von mehr als nur einem unbesonnenen Kind«, mit dieser Beleidigung tat sie mich als unbedeutend ab, »bemerkt worden. Es sei denn, es war irgendein Trick dabei.« Erneut starrte sie die in Pose sitzende Gestalt an. Am Kragen des Kostüms war kein Blut zu sehen– es war nicht einmal Blut an dem sauber abgetrennten Stumpf ihres Halses. Die Frau drehte sich wieder zu Tatius um. »Was hast du dazu zu sagen, Puppenspieler?«
»Bitte entschuldige, Sammlerin. Ich versichere dir, dass ich der Sache auf den Grund gehen werde…« Tatius’ raue Stimme kratzte an meinem Rückgrat entlang.
Sammlerin? Na großartig. Die Sammlerin war der große böse Star der Party. Der Ehrengast. Ich musste wirklich so was von hier raus! In meinem alten Leben hatte ich gelernt, dass es dumm war, eine Alpha-Katze am Schwanz zu ziehen– obwohl das zu wissen nicht unbedingt hieß, dass es nicht trotzdem passierte, manchmal zumindest. Aber ich hatte absolut nicht vorgehabt, im Mittelpunkt dieser Aufmerksamkeit zu landen.
»Nuri«, sagte Tatius und wandte sich zu der Menge um. Der Pulk aus Vampiren, die nun, da sich der erste Schock über die Entdeckung der Leiche gelegt hatte, leise miteinander murmelten, teilte sich, um ein kleines Mädchen von höchstens zwölf Jahren durchzulassen.
Als Nuri näher kam, ließ Tatius meinen Arm los. Dem Mond sei Dank. Ich machte Anstalten, zur Seite zu treten, doch er legte mir die Hand auf den Nacken, sodass seine Fingerspitzen in der kleinen Grube zwischen meinem Schlüsselbein und meinem Hals zu liegen kamen. Es war kein Zwang in der Berührung, aber sie war allzu persönlich. O nein, verdammt! Das letzte Mal, als ich Tatius getroffen hatte, hatte er darüber nachgedacht, mich umzubringen. Dann hatte er mich gezwungen, sein Blut zu trinken. Ich wollte nichts mit diesem Vampir zu tun haben!
Unauffällig versuchte ich, ihn abzuschütteln, doch als Antwort darauf gruben sich seine Nägel in meine Haut. Okay, offensichtlich würde ich also eine Szene– eine weitere Szene– machen müssen, oder brav bleiben, wo ich war. Ausnahmsweise einmal ging ich auf Nummer sicher.
Nuri, die wie eine ägyptische Königin verkleidet war, mit einer großen Schlange, die zwischen ihren dunklen Dreadlocks hervorlugte, kniete sich neben den Harlekin. Als ich ihr dabei zusah, wie sie die Hand der Toten hob, wurde mir unvermittelt bewusst, wo ich Nuri schon einmal gesehen hatte. Sie hatte am Tisch des Rates gesessen, als ich zum ersten Mal vor die Vampire gebracht worden war, was bedeutete, dass sie viel älter sein musste, als sie aussah.
Nachdem sie sich die Leiche einen Augenblick lang angesehen hatte, stand sie wieder auf und drehte sich zu Tatius um. »Die Leichenstarre setzt gerade erst ein, deshalb würde ich schätzen, dass sie noch nicht länger als vier Stunden tot ist. Die Wunde ist nicht ausgefranst, also wurde sie mit einem scharfen Gegenstand enthauptet. Das fehlende Blut lässt vermuten, dass sie vor ihrem Tod ausgesaugt wurde. Sobald ich noch mehr herausgefunden habe, gebe ich Bescheid.« Die Worte klangen zu alt, zu ernst für ihre dünne, mädchenhafte Stimme. Nicht dass irgendjemand sonst das zu bemerken schien. Sie trat zur Seite und nickte zwei in Kunstleder gekleideten Vampiren zu, die daraufhin die Leiche aufhoben und zu einem
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