Brautflug
Sal war – er rannte dort auf seinen kurzen Beinchen durch die Säle. Jahre später träumte sie davon in gestochen scharfen Bildern, und hier findet man sie wieder: goldene, barocke Stühle, die Sitzkissen mit dunkelblauem Samt bezogen, die um einen runden Tisch stehen. Auf dem liegt eine Glasplatte, die den bis auf den Boden herunterhängenden Samt vor Hunderten von Kaffeetassen und dem ein oder anderen Gläschen Likör schützt. Über diese Glasplatte schiebt sie die aufgeschlagenen Zeitschriften in Richtung der jungen Frau mit ihrem hoffnungsvollen Blick hinüber. »Sehen Sie, so etwas könnte ich mir vorstellen, denn zweiteilig, nein, das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, das ist eher was für große Menschen.«
Sie ist eine Autorität, man hört auf sie, und sie hat auch keine Hemmungen, eine junge Frau erst ein zweiteiliges Kostüm anprobieren zu lassen und direkt danach dann zum Beispiel eine schöne, schlanke A-Linie, nun ja, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn eine Kundin ihr da nicht zustimmt.
Im Vorbeigehen streicht sie gedankenverloren über den schwarzhölzernen Ladentisch, unter dem Stapel hellgelber, blassrosa und elfenbeinweißer Spitze hinter Glas liegen. Hinter dem Ladentisch lehnen die Stoffrollen schräg an der Wand, mindestens hundert an der Zahl, und darüber sind Regale mit Viskose, Satin und Voile. Sie geht an den Holzständern mit den runden Köpfen vorbei, unter denen weiße Spitzenschleier bis zum Boden herabhängen, sodass es aussieht, als stände dort eine Gruppe verschleierter arabischer Bräute, die schüchtern auf ihren Bräutigam warten, und dann ist sie an der Tür mit den schweren Schlössern angelangt – Auckland ist eine große Stadt, und in der letzten Zeit ist viel zwielichtiges Volk nach Neuseeland gekommen. Wie jeden Morgen bückt sie sich, oh dear, zur Türmatte und greift nach der Post, doch in dem Moment, als sie zwischen den Kontoauszügen und Werbeblättern den schwarz umrandeten Umschlag mit der Traubenblut-Vignette sieht, weiß sie, dass dies kein gewöhnlicher Tag werden und ihr Laden geschlossen bleiben wird.
In Blaricium, beim Rhododendron, fällt Marjorie hin – mit dem Handy am Ohr –, weil Captain Cook hinten im Garten Äste knacken hört und überraschend stark an der Leine zieht. Sie hätte sich keinen Rüden aufschwatzen lassen sollen. Mit Hans wäre ihr das nicht passiert. Gerade heute beim Morgenspaziergang über die Heide hat sie mal wieder gedacht, der Hund ist zu stark, zu wild für sie, die Erziehung ist nicht besonders gut gelaufen, und wie so oft in letzter Zeit ist sie von Selbstmitleid erfüllt zurückgelaufen. Sie ist seit vier Jahren Witwe und weigert sich, sich daran zu gewöhnen. So war das nicht ausgemacht. Hans umsorgte sie, und sie war die Prinzessin, die Diva wohl eher, so lagen die Dinge, und damit war jeder zufrieden. Morgens tot in seinem Bett zu liegen, das war gegen die Abmachung.
Als sie wieder bei der Reetdachvilla ankommt, holt sie die Post aus dem dunkelgrünen Briefkasten am Gartenzaun, und genau in dem Moment klingelt in ihrem Dufflecoat ihr Handy, diesen Moment wird sie nie vergessen. Sie schiebt die Lasche der Hundeleine um ihr Handgelenk, klemmt die Post unter den Arm und schafft es, das nervige Ding gerade noch rechtzeitig aus ihrer Tasche zu holen.
»Doorman hier.«
Vom anderen Ende der Welt dringt die Vergangenheit zu ihr hindurch.
Es ist kein wirklich erhebender Anblick: eine beleibte, ältere Frau, die der Länge nach in die Krokusse stürzt, und eine Sekunde lang schätzt sie sich selbst glücklich, trotz des Knackens ihres Handgelenks, dass ihr großer Garten dicht bewachsen und gut umzäunt ist, sodass niemand sie sehen kann. Doch dann fängt sie an zu jammern, und während sie sich mühsam aufrappelt, fühlt sie sich schrecklich allein auf der Welt: der heftige Schmerz, und verdreckt ist sie, stinkt nach dem Kuhmist, der hier jedes Frühjahr verstreut wird und noch nicht eingesickert ist. Warum ist Hans nur nicht da? Die kleinste Bewegung ihres Handgelenks tut unglaublich weh, möglicherweise ist es gebrochen, nein,
bestimmt
ist es gebrochen, denn sie kann ihre Finger nicht mehr bewegen, sie muss Bob anrufen. Doch das geht nicht mit einer Hand, die Jacke ist verdammt nochmal gerade zurück aus der Reinigung, Bob muss sofort kommen, aber der kann natürlich auch nicht so einfach weg, und es ist auch noch das rechte Handgelenk, wie soll sie das nur schaffen, Hans hätte sie niemals im
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