Breathe - Flucht nach Sequoia: Roman (German Edition)
das auch. Mühsam schlucke ich und warte, bis sein Blick mich freigibt.
»Den Hain gibt es nicht mehr«, erklärt Silas.
»Du lügst.«
»Das Ministerium hat ihn zerstört. Wir können sonst nirgendwohin«, beharrt Silas und Scham steigt in mir hoch, weil mir bewusst wird, wie hilflos wir wirken müssen.
»Das ist kein Flüchtlingscamp hier. Im Hain waren Hunderte. Wir haben den Platz nicht. Ich schlage vor, ihr macht kehrt und richtet Petra aus, die Antwort ist Nein.«
Silas lässt den Kopf hängen. Dorian und Song sehen sich an. Maude und Bruce sinken in sich zusammen. Ich mache einen Schritt nach vorn. Der Mann versucht nicht, mich zurückzuhalten, sondern hebt fragend eine Augenbraue. »Wir sind keine Vorhut. Petra ist tot, ihre Leute sind tot und die Bäume sind vernichtet. Nur wir sind noch übrig.« Ich spüre die Augen der anderen auf mir. War es falsch, das laut auszusprechen?
Der Mann bleibt stumm. Er legt sich einen Finger hinters Ohr und nickt dann. »Die Tretminen sind deaktiviert«, sagt er. Er trägt einen Empfänger im Ohr – er ist gar nicht der Anführer. Die anderen Soldaten, alle bewaffnet, springen von der Mauer, kreisen uns ein und sammeln unsere Waffen vom Boden auf.
»Nimm deine Dreckspfoten von meinem Zeug!«,kreischt Maude, doch der Soldat rammt ihr einfach ihre eigene Pistole zwischen die Rippen. Sie winselt vor Schmerz.
Silas reißt die Augen auf. »Sag deinen Affen, sie sollen sich benehmen«, bellt er.
Doch der Typ grinst nur schief. »Warum sollte ich?« Er schaut auf mein Atemgerät und dann in meine Augen, den einzigen unbedeckten Teil meines Gesichts. Er macht keinen Hehl daraus, wie sehr er meine Abhängigkeit verachtet.
»Wir sind keine Belastung. Wir sind gut ausgebildet«, sagt Song. »Ich bin Biochemiker. Ich kann bei der Entwicklung eines Sauerstoffspeichers helfen.«
»Hier müsst ihr nur eine Sache beherrschen«, meint der Mann. Er tritt vor und zieht mir die Maske vom Gesicht. Silas’ Reaktion wird durch eine vorgehaltene Waffe schon im Keim erstickt. Der Mann umfasst mein Kinn und zieht mich näher zu sich heran. Ich weiche seinem Blick nicht aus, weigere mich einzuknicken, und schließlich lächelt er und schnallt mir die Maske wieder an, zurrt mir die Gummibänder vorsichtig am Hinterkopf fest. Ich nehme einen langen, tiefen Atemzug aus meinem schwindenden Sauerstoffvorrat.
»Lasst uns gehen und rausfinden, was Vanya mit euch vorhat«, sagt der Mann.
Dorian folgt ihm auf den Fersen, doch wir anderen bleiben zurück und schauen uns an.
»Sind wir hier am richtigen Ort?«, frage ich leise.
»Wir sind an dem Ort, der uns noch geblieben ist«, erinnert mich Silas.
Wir biegen um eine Kurve, wo eine weitere Mauer wartet. Die Ziegelsteine mögen alt sein, doch die Mauer ist weder vermoost noch zerfallen oder gar einsturzgefährdet. Sie wirkt wie frisch errichtet, der Zement hält die Steine säuberlich zusammen und ganz oben ist das Gestein mit bunten Glasscherben gespickt, damit niemand drüberklettern kann. Von beiden Enden aus zeichnen Kameras unsere Bewegungen auf, während wir im Gänsemarsch auf ein Stahltor zulaufen, vor dem bewaffnete Wachen positioniert sind. »Wir kommen jetzt rein«, verkündet der Tätowierte und die Wachen wuchten die quietschenden Türen auf.
Dahinter habe ich ein ehemaliges Gefängnis erwartet, eine verlassene Schule oder ein Krankenhaus, doch Sequoia ist nichts dergleichen. Es ist ein weißes Riesenpalais, praktisch unversehrt und von zwei funkelnden Gewächshäusern flankiert. Davor steht ein ausgetrockneter, mit Kupferengelchen verzierter Brunnen, hier und da winden sich säuberlich geharkte Kiespfade und Zierwege. Die meisten der palladianischen Prachtfenster sind noch intakt, mit Glas und allem, und die wenigen zerstörten sind mit weiß lackierten Sperrholzplatten bedeckt, damit sie nicht so auffallen. Mit den Schuttbergen der Großstadt hat das hier nichts gemein. Einen Augenblick lang werde ich in eine mir fremde Vergangenheit zurückgeschleudert, in die Zeit vor dem Switch. Doch nach Lächeln ist mir trotzdem nicht. Irgendwas fehlt hier.
Ich stupse Silas mit dem Ellbogen in die Seite. »KeinBaum weit und breit«, raune ich. In meinem Hals beginnt es zu brennen. Erst kommt der Husten, dann muss ich mich auf Silas stützen.
»Dorian, deine Flasche«, ruft Silas, der mich mühsam aufrecht hält. Mein leeres Atemgerät wird mir vom Gürtel abgehakt und durch ein anderes ersetzt. Binnen Sekunden ist wieder Leben in mir.
Weitere Kostenlose Bücher