Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
steht direkt vor ihm: Dann sieht man den kleinen tätowierten Kreis auf seinem Ohrläppchen.
Wie Quinn hatten vermutlich auch alle anderen Teilnehmer zur Vorbereitung auf die Diskussion einen Tutor an ihrer Seite. Deshalb wird es ihnen wohl auch nicht schwerfallen, mich an die Wand zu reden.
Als der Professor endlich in den Raum schwebt, schaut er nicht mal ansatzweise in unsere Richtung. Er wendet uns den Rücken zu, als hätte er unsere Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt. Wir setzen uns stramm hin und äugen zu ihm nach vorn, während er den Bildschirm einschaltet. Als er endlich den Mund aufmacht, klingt seine Stimme metallisch.
»Die Prüfung, der Sie sich gleich unterziehen werden, ist eine Prüfung Ihrer Geistesschärfe und wird Ihnen allerhöchste Konzentration abverlangen. Diejenigen von Ihnen, die schon einmal an dieser Runde teilgenommen und nicht bestanden haben« – er schnellt herum und starrt einen Typen mit Schweißperlen im Nacken an –, »werden sich daran erinnern, dass es uns hier nicht darum geht, die ultimativ richtige Antwort zu erhalten. Nein, wir suchen nach überzeugenden Meinungen. Nach ausgeprägter Argumentationskraft. Wir suchen Leute, die sowohl die intellektuellen Fähigkeiten als auch die Standhaftigkeit und Willensstärke besitzen, um eine Führungsrolle in der Kuppel zu übernehmen. Sie, die Sie hier sitzen, sind ausgewählt worden, weil Sie in den vorangegangenen Tests außergewöhnlich gut abgeschnitten haben. Allerdings waren die Diskussionen in diesen Testslediglich simuliert. Und wirklich aussagekräftige Ergebnisse erhält man nur in echten Debatten mit echten Diskussionsteilnehmern – in Debatten wie dieser. Bleibt zuletzt noch zu sagen, dass zahlreiche Regierungsbeamte und Verwaltungsmitglieder von BREATHE – dem Sponsor dieses Führungskräfteprogramms – Ihre Diskussion verfolgen werden.«
Quinns Blick gleitet hinüber zu der verspiegelten Wand. Vermutlich fragt er sich, ob sein Vater, ein hohes Tier bei BREATHE, ebenfalls hinter dem Spiegel sitzt.
»Darüber hinaus wird die Debatte selbstverständlich aufgezeichnet. Sobald Sie bewertet worden sind, können Sie über Ihr Pad das Ranking einsehen. Ich sage gleich vorweg, dass wir keinesfalls mehr als zwei von Ihnen rekrutieren werden. Aber es ist durchaus auch möglich, dass wir niemanden aus dieser Runde auswählen.«
So, wie es aussieht, wird es keine der üblichen Debatten sein – mit zwei Meinungslagern, deren Vertreter sich in zwei Blöcken gegenübersitzen. Wir werden alle um diesen Konferenztisch hocken, fast wie bei einer Vorstandssitzung, und in alle möglichen Richtungen Partei ergreifen oder auf Distanz gehen, je nachdem, ob und wie sehr wir mit den Argumenten der anderen Kandidaten übereinstimmen. Zu jedem Zeitpunkt kann der Professor einen Studenten, den er zu aggressiv, zu still oder unlogisch findet, aus der Diskussionsrunde herausnehmen. Die Kunst besteht also darin, sich nicht zu ereifern, permanent im Spiel zu bleiben und die anderen auf seine Seite zu ziehen.
Der Professor nimmt auf dem Stuhl mit der hohen Lehne ganz vorne im Raum Platz und weist uns Nummern zu, mit denen wir einander ansprechen sollen.
»Sollte sich eine Situation ergeben, in der Sie alle miteinander übereinstimmen, dann werden diejenigen unter Ihnen punkten, die in die Rolle des Advocatus Diaboli schlüpfen. Ich werde Ihnen jetzt nicht erklären, was das bedeutet – Sie haben schließlich alle die Eingangstests bestanden.«
Dann wendet er sich dem Monitor zu und drückt auf einen Schalter. An der Wand leuchtet ein Statement auf:
Bäume sind nicht länger notwendig für unser Überleben und unseren Fortschritt .
Natürlich! Das ewige Thema! Worüber sollte man auch sonst sprechen?
Ein Junge in einem blütenweißen Hemd springt zuerst in den Ring: »In der Vergangenheit, da waren Bäume lebensnotwendig, das stimmt. Aber jetzt sind sie tot und wir kommen sehr gut ohne sie aus. Man braucht doch nur durch die Kuppel zu spazieren, um zu sehen, wie glücklich und gesund die Menschen sind.«
Na klar. Ein Premium empfindet die Kuppel natürlich als Paradies. Aber der Typ hat drauflosgeredet, ohne seine Argumente bis zum Ende zu durchdenken. Er wird seine Position nie und nimmer eine ganze Stunde lang aufrechterhalten können.
»Ich bin anderer Meinung«, melde ich mich zu Wort.»Wir Seconds können uns keinen Extra-Sauerstoff leisten, um beispielsweise Sport zu treiben. Wie sollen wir da auf Dauer gesund
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