Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
Beine wie ein Klappmesser über den Rumpf gelegt, sodass er seine Knie küssen könnte und die Fußspitzen hinter seinem Kopf den Boden berühren. Wieder ein anderer steht auf einem Bein und spreizt das andere im rechten Winkel zur Seite ab. Sie scheinen alle unendlich biegsam zu sein.
»Hörst du das?«, flüstert Alina.
Es knistert leise im Raum, ein Geräusch wie von einer elektrostatischen Aufladung. Ich nicke.
»Das ist ihr Atmen.«
»Also brauche ich die Maske gar nicht?«, frage ich.
»Doch, du brauchst sie und ich brauche sie auch. Die Luft hier drinnen enthält nur etwa sechs Prozent Sauerstoff.«
»Wie? Was ist das denn für ein Raum?«
»Ein Trainingsraum. Jeder hier trainiert zweimal täglich für jeweils drei Stunden. Du hast Dorian gefragt, wie er das mit dem Atmen macht. Hier hast du die Antwort: Entspannung ist der Schlüssel zum Sauerstoffeinsparen. Petra hat alles gelesen, was je darüber geschrieben wurde, und hat dann hier im Rebellenhain mit dem Üben begonnen. Vor dem Switch haben das nur Apnoetaucher praktiziert. Es hat ihnen geholfen, den Atem unter Wasser anzuhalten. Alle Anwesenden hier im Raum senken ihre Herzschlagfrequenz und vergrößern ihr Lungenvolumen.«
Mir liegen tausend Fragen auf der Zunge, aber Alina führt mich bereits wieder raus auf den Gang. Wir gehen ein paar Meter weiter und treten durch eine zweite Glastür. In dem Raum, in dem wir jetzt stehen, ist es laut und heiß und sehr viel voller. Hier tragen die Leute Atemmasken und strampeln sich schwitzend an irgendwelchen digitalen Maschinen ab – kletternd, rudernd, laufend oder Rad fahrend. Ein paar von ihnen winken uns zu und Alina grüßt lächelnd zurück. Ich habe solche Maschinen schon in der Kuppel gesehen. Premiums nutzen sie, um in Form zu bleiben.
»Sagtest du nicht, Entspannung sei entscheidend?«
»Ja, aber gleichzeitig musst du fit sein. Und stark. Ein kräftiges Herz ist mindestens ebenso wichtig wie die Fähigkeit zu entspannen«, erklärt sie.
»Aber hier drinnen brauchen sie doch mehr Sauerstoff.«
»Stimmt. Aber immer noch nicht so viel wie du. Jeder hier verbraucht unterschiedlich viel. Das hängt vom jeweiligen Trainingsstand ab. Deshalb tragen sie Atemmasken.«
»Klar«, sage ich, als wäre es das Logischste und Selbstverständlichste der Welt.
»Okay, wir gehen jetzt besser zum Essen. Wir essen in der ersten Gruppe, zusammen mit Petra. Da sollten wir nicht zu spät kommen.«
»Ich kapier nicht, wie …«, beginne ich.
»Die meisten Rebellen haben ihren Körper daran gewöhnt, mit dem auszukommen, was die Atmosphäre bietet«, erklärt mir Alina im Gehen. »Das heißt: Sie können ohne Sauerstoffflasche durch die Welt spazieren. Für ’nen Marathonlauf reicht’s zwar nicht, aber sie können in normalem Tempo gehen und sich dabei sogar noch unterhalten. Und, das Wichtigste: Sie können überall leben.«
»Weiß das Ministerium davon?«
»Sie ahnen irgendwas. Deshalb wollen sie uns ja auch beseitigen. Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn wir einfach in die Kuppel reinspazieren und denen dort zeigen würden, dass sie in Wahrheit Gefangene sind?«
»Ihr würdet erschossen werden, noch bevor ihr dort ankämt«, vermute ich und Alina nickt. »Also könnte letztlich jeder Mensch ohne künstlichen Sauerstoff atmen?«, hake ich nach.
»Nein, nicht jeder: Alte oder kranke Menschen werden nie ohne Sauerstoffflasche auskommen. Und für diejenigen von uns, die in der Kuppel gelebt haben, ist es auch schwerer. Du und ich, wir brauchen unsere Flaschen. Jedenfalls vorerst noch. Wir haben über so viele Jahre extrem hohe Sauerstoffdosen konsumiert, dass wir wahnsinnige Schmerzen kriegen würden, wenn wir versuchten, mit weniger auszukommen. Und es wäre gefährlich. Möglicherweise sogar tödlich.«
Wir halten wieder an, diesmal vor einer gläsernen Drehtür.
»Nimm deine Maske ab. In diesen Raum wird etwas Sauerstoff eingeleitet«, erklärt Alina. »Wenn dir trotzdem schwindelig wird, kannst du sie immer noch aufsetzen.«
Ungefähr fünfzig Leute sitzen an einem langen Tisch, der beladen ist mit Essensplatten. Alina zieht mich näher zu sich heran, und obwohl ich merke, dass es auf einmal ganz still geworden ist und sich alle nach uns umdrehen, kann ich nicht anders: Ich starre das Essen an, ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden. Da stehen Schalen mit Beeren – Erdbeeren, Himbeeren und solche, die ich aus Filmen kenne, deren Name mir jedoch gerade nicht einfällt;
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