Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
herumliegenden Löffel, Sonnenbrillen, Schubkarren, Tabletts, Flugdrachen oder Schüsseln wieder aufsammeln und nutzen könnte.
Dabei gab es hier mal massenhaft Menschen. Etliche Millionen allein in diesem Land. Vor vielen, vielen Jahren. Bis die Bevölkerung durch den Switch um 99,5 Prozent dezimiert wurde. Nicht nur hier, sondern überall auf dem Planeten. Die meisten Menschen starben innerhalb weniger Jahre. Wenn ich nur an die Leichen denke, an diese Riesenzahl von Toten, die in den Hinterhöfen ringsum verscharrt wurden, wird mir schlecht. Denn das mussten die Überlebenden tun, nachdem die Friedhöfe überquollen. Nicht einmal Massengräber konnten die große Anzahl an Leichen mehr aufnehmen, also wurden sie verbrannt. Und als die Überlebenden ihrerseits immer schwächer wurden, haben sie die Toten einfach liegen und verwesen lassen.
Ich erinnere mich an Videofilme aus dem Geschichtsunterricht: Leichen in Betten und Badezimmern. Leichenauf den Straßen, neben oder in verlassenen Fahrzeugen. Kleine Leichen und große, Erwachsene und Kinder, einige mit verwesendem Fleisch, andere schon zu Knochenhaufen zerfallen. Die Tiere waren zu dem Zeitpunkt längst verschwunden: Sie waren millionenfach geschlachtet worden, nachdem die Menschen kapiert hatten, was los war. Sie dienten als Nahrung, nachdem die Bauern nichts mehr anbauen konnten. Selbst Haustiere wurden aufgegessen. Der Gedanke, dass Tiere das gleiche Recht auf Luft und Leben haben könnten wie Menschen, war mit einem Schlag aus den Köpfen verschwunden. Aber Bäume und Pflanzen waren zu dem Zeitpunkt ja auch schon nicht mehr wertgeschätzt worden.
In der Ferne rumpelt Donner. Ich schaue hoch und stelle mir vor, dass der krumme Telegrafenmast vor mir in Wahrheit ein zweig- und blattloser Baum ist. Die Vorstellung macht mich wütend. Ich weiß, warum die Bäume gefällt wurden. Ich kenne das Problem: Die Weltbevölkerung hatte sich rasant vermehrt, ihr Nahrungsbedarf war extrem gestiegen. Also rodete man kurzerhand die verbleibenden Wälder, um die frei werdenden Flächen für die Landwirtschaft zu nutzen. Aber wie konnte man so blöd sein zu glauben, dass die Ozeane den Sauerstoffbedarf des gesamten Planeten decken könnten? Und wie konnte man sich so wenig darum scheren, mit welchen Methoden die Nahrung produziert wurde? Nichts wurde geschont, weder die Bäume noch die Erde. Und niemand hat den Schaden vorhergesehen, den Milliarden Tonnen Dünger und Pestizide anrichten würden, die vonden Äckern in die Flüsse und Meere sickerten. Niemand konnte sich vorstellen, dass die Ozeane sterben könnten. Und obendrein so schnell. Aber so ist es immer. Wir denken immer, wir hätten Zeit. Haben wir aber nicht. Hatten wir auch damals nicht. Innerhalb weniger Jahre fiel der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre auf ungefähr vier Prozent.
Das ist übrigens nicht die offizielle Version aus dem Geschichtsunterricht. Dort hat man uns erzählt, dass China an allem schuld war: all die Fabriken. Und Indien: all die Babys. Und Amerika: all die Konsumsüchtigen.
Der Regen ist jetzt stärker geworden. Ich öffne meinen Mund gen Himmel.
Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen – als Abkömmling von Menschen, die es geschafft haben zu überleben. Aber wie hat die Menschheit überhaupt überlebt? Tja, da müssen wir uns wohl bei BREATHE bedanken. Ich blicke zurück, aber die Kuppel ist nicht mehr zu sehen. BREATHE-Ingenieure haben in ihren Labors, in denen sie wochenlang mit umgeschnallten Taucherflaschen hockten, eine Lösung ausgetüftelt. Die Taucherflaschen wurden übrigens zunächst nur an die wichtigen Mitglieder der Gesellschaft ausgegeben: an Ärzte, Richter, Politiker. An Künstler zum Beispiel nicht, denn welchen Nutzen konnten die schon haben? Oder die Obdachlosen? Die Kranken? Die waren die Ersten, die draufgingen.
Irgendwann rief die Regierung dann eine Lotterie ins Leben: Die Hälfte der Sauerstoffflaschen und Berechtigungsscheinefür die Kuppel wurde an zufällig ausgeloste Bürger unter dreißig Jahren ausgegeben. Und so haben meine Großeltern, damals noch jung und fit, einen Platz gewonnen und wurden mit Sauerstoff versorgt, während die Kuppel gebaut wurde.
Allerdings kannten sich mein Großvater und meine Großmutter zu der Zeit noch gar nicht. Erst in der Kuppel haben sie sich kennengelernt, als Arbeiter in einer der Recyclingstationen. Sie sind gestorben, als ich noch klein war, und haben beide bis zuletzt nicht glauben wollen, dass sie den
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