Brenda Joyce
genau über dem rechten Ohr in den Schädel eingedrungen
und auf der anderen Seite sauber wieder ausgetreten.« Seine Augen wurden
schmal. »Wer wäre wohl zu solch einem Kunststück fähig? Mit derartigen
Schützen haben wir es hier in der Stadt nicht oft zu tun, beileibe nicht.«
Francesca schauderte unbehaglich.
»Sie haben doch Craddocks Akte gesehen – die Liste seiner Feinde
ist kilometerlang«, erwiderte Bragg.
»Ja, das stimmt allerdings. Harry! Robinson! Suchen Sie die
Umgebung nach dem flüchtigen Schützen ab, und zwar Haus für Haus!«, befahl Farr
mit sichtlichem Vergnügen.
Francesca warf einen Blick zu Bragg, doch dieser schüttelte warnend
den Kopf.
Farr musterte beide abwechselnd, die Hände auf
die Hüften gestemmt. »Nun, wie es scheint, ist Ihre gesamte Familie entlastet
– fast alle waren hier versammelt, Ihr Vater hat inzwischen die Kinder nach
Hause gebracht ... es fehlt nur einer: Shoz Savage.«
Auf diese Feststellung folgte Schweigen.
Hart trat zu der Gruppe. »Er ist mit seiner Tochter und Rathe
heimgefahren«, verkündete er kühl. »Ist es nicht so, Raoul?«, fragte er den
kräftigen Spanier, der noch immer neben Peter auf dem Bock seiner Kutsche saß.
Raoul nickte. »Ja, Sir, so ist es«, bestätigte er mit starkem
spanischem Akzent.
Farr lächelte mit einem unangenehmen Ausdruck
in die Runde. »Harry, lassen Sie ein Dutzend Leute die Straßen durchkämmen.
Der Schütze muss schnellstmöglich aufgegriffen werden, ehe er Gelegenheit hat,
aus der näheren Umgebung zu verschwinden. Und finden Sie die Kugel, mit der
dieser Bastard erledigt wurde. Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, wird sich herausstellen,
dass hier ein Gewehr benutzt wurde. Und zwar ein ganz besonderes Gewehr, eines,
wie wir es noch nicht gesehen haben.«
»Ja, Sir«, parierte der Polizist.
Farr wandte sich wieder an Bragg. »Ich werde hier alles regeln, Sir.
Sie möchten sich gewiss Ihrer Familie anschließen und nach dem kleinen Mädchen
sehen.«
»Danke, Brendan«, erwiderte Bragg. Dann fasste er Francesca am
Arm, um sie zu Harts Kutsche zu geleiten. »Ist wirklich alles in Ordnung?«,
erkundigte er sich.
»Ja. Ein paar Prellungen, denke ich, aber weiter ist mir nichts zugestoßen«,
beteuerte sie ernst. Und leise fügte sie hinzu: »Ich bin nicht diejenige, um
die Sie sich Sorgen machen sollten.«
Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment schien alles um sie herum
zu verblassen. Endlich lächelte er schwach. »Ich habe noch nie solche Angst
ausgestanden, Francesca. Ich wünschte, Sie könnten Verbrechen aufklären, ohne
sich ständig selbst derart in Gefahr zu bringen.«
»Es tut mir
Leid. Um ehrlich zu sein – das wünschte ich auch.«
»Mussten
Sie es denn unbedingt allein mit Craddock aufnehmen? Hätten Sie nicht noch ein
paar Minuten auf uns warten können?«
»Ich fürchtete, Craddock würde sich davonmachen und wir würden
erneut seine Spur verlieren!«, protestierte sie.
Er seufzte.
Sie berührte ihn am Ärmel. Dabei hätte sie sich am liebsten in
seine Arme geworfen.
»Ich denke, wir sollten uns hier nicht länger aufhalten«, bemerkte
Rourke sachlich.
Francesca fuhr zusammen. Für einen Moment hatte sie völlig vergessen,
wo sie sich befanden und dass sie und Bragg nicht allein waren. Als sie sich
umblickte, sah sie Polizisten den Gehweg nach dem Geschoss absuchen, das – wenn
es gefunden wurde – Shoz schwer belasten konnte. Auf der anderen Straßenseite
kamen indessen weitere Officers aus dem Mietshaus und dem Hutgeschäft und
riefen Farr zu, sie hätten niemanden entdeckt. Dann fiel Francescas Blick auf
Hart.
Er beobachtete sie mit eigentümlich ausdrucksloser Miene. Als sie
seinen Blick auffing, wandte er sich abrupt ab und öffnete die Tür der Kutsche.
Francesca musste daran denken, wie er sie in die Arme geschlossen hatte,
nachdem Craddock niedergeschossen worden war. Etwas war ihr in jenem Moment
sehr richtig erschienen, stellte sie fest, und das Gefühl, das sie dabei durchströmte,
konnte nicht bloße Furcht sein.
Doch es war nicht richtig. Nichts an Calder Hart war richtig,
nicht für sie.
»Francesca?« Braggs Stimme riss
sie aus ihren Gedanken.
Sie schrak auf, schenkte ihm
ein flüchtiges Lächeln und kletterte in die Kutsche. Hart folgte, dann Rourke
und Nicholas. Bragg stieg als Letzter ein und schlug die Tür zu.
»Wir bringen zuerst Miss Cahill nach Hause, Raoul«, wies Hart
seinen Kutscher an.
Dieser erwiderte nichts, doch der Brougham setzte sich in
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