Brenda Joyce
Bewegung.
Die Insassen wechselten bedeutungsvolle Blicke und seufzten
einvernehmlich. Francesca wusste: Zwar waren sie alle erleichtert, doch
zugleich hegte jeder dieselbe Befürchtung: dass es Shoz nicht gelingen würde,
der Polizei zu entkommen, dass sie ihn aufgriffen ... und des Mordes anklagten.
Doch wenigstens war Craddock tot. Und die
Wahrheit über den Mord an Cooper konnte nun mit ihm begraben werden.
»Dieser Mann besitzt die Fähigkeit, mit dem
Schatten zu verschmelzen«, bemerkte Rourke. »Ich habe es mit eigenen Augen
gesehen. Wenn irgendjemand in der Lage ist, sich in dieser Situation unbemerkt
aus dem Staub zu machen, dann ist er es.«
»Aber er hatte ein Gewehr – und Farr sucht nach der Kugel, mit der
Craddock getötet wurde«, gab Francesca zu bedenken. Dabei erschreckte es sie
selbst, wie mutlos sie klang.
Auf ihre
Worte folgte unbehagliches Schweigen.
Plötzlich grinste Nicholas, griff in seine Hosentasche und streckte
mit funkelnden Augen die Hand aus. »Ich glaube nicht, dass Chief Farr finden
wird, wonach er sucht«, verkündete er und öffnete die Faust.
Auf seiner
Handfläche lag ein Projektil.
Bragg riss
erstaunt die Augen auf, nahm die Kugel in die Hand und stieß ein zittriges
Lachen aus. »Gut gemacht!«
»Ausgezeichnet.«
Hart schlug dem jungen Mann grinsend aufs Knie.
»Seht ihr? Er taugt durchaus
noch zu etwas anderem als zum Schürzenjäger«, stellte Rourke schmunzelnd fest.
Francesca
lachte vor Erleichterung.
Bragg gab Nicholas das
Projektil zurück. »Das ist mir niemals unter die Augen gekommen«, sagte er.
Kapitel 21
DIENSTAG,
18. FEBRUAR 1902 – 18 UHR
Die Tür stand ein wenig offen, und als er durch den Spalt
einen Blick ins Zimmer warf, bot sich ihm eine rührende häusliche Szene.
Lucy saß auf dem Boden, mit dem Rücken an ein Sofa gelehnt, ihr
herrliches rotes Haar fiel ihr offen über die Schultern, und an den Füßen trug
sie nur Strümpfe. Chrissy saß auf ihrem Schoß und spielte mit zwei kleinen
Holzpferdchen, Jack hockte wenige Schritte entfernt und beschäftigte sich mit
einem Malbuch, und Shoz lag auf dem Sofa, die Hände hinter dem Kopf
verschränkt, mit einer Hose aus grobem Baumwollstoff sowie einem karierten
Flanellhemd bekleidet, und betrachtete seine Frau und die Zwillinge. Zu seinen
Füßen kauerte, in einen Roman vertieft, Roberto. Im Kamin prasselte ein
munteres Feuer.
Sein Herz krampfte sich zusammen. In diesem Moment wurde ihm
bewusst: Er würde alles tun, um seine Familie zu beschützen. Eine Bewegung
hinter ihm ließ ihn aufschrecken. Als er sich umwandte, blickte er in Harts
dunkle Augen.
»Manchmal kann man seine Verwandtschaft doch nicht verleugnen«,
murmelte Hart. »Ich wollte Shoz gerade ein paar Fragen stellen.« Er zog
fragend die Augenbrauen hoch.
Bragg trat von der Tür zurück. »Ich
ebenfalls.« Er lächelte ein wenig, was sein Halbbruder erwiderte. Im nächsten
Moment schossen Bragg die Ereignisse des Nachmittags noch einmal durch den
Kopf, und aus einem Impuls heraus berührte er Hart am Hemdsärmel. »Danke für
deine Hilfe heute Nachmittag«, sagte er.
Hart stutzte.
»Ohne dich wäre es mir nicht gelungen, Francesca zu retten«, fügte
Bragg hinzu.
Hart lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der
Brust. Er hatte zwar sein Jackett ausgezogen, trug jedoch noch eine Weste aus
Silberbrokat. »Das denke ich doch«, entgegnete er ruhig. »Du bist ein verdammt
guter Polizeipräsident, das muss man dir lassen.«
Die Ernsthaftigkeit, mit der er dieses Lob aussprach, verblüffte
Bragg. Plötzlich überwältigten ihn starke Gefühle, und zahllose
Kindheitserinnerungen stiegen in ihm auf, doch in all diesen war Hart ein
kleines, düsteres, zorniges Kind, das sich an die Hand des älteren Bruders
klammerte. Weshalb gerieten sie nur ständig aneinander? Warum diese
gegenseitige Abneigung zwischen ihnen? War es nicht an der Zeit, das
Kriegsbeil zu begraben und die alten Wunden heilen zu lassen?
»Was starrst du mich so an?«, brummte Hart. »Sind mir vielleicht
Hörner gewachsen?«
Vor Braggs geistigem Auge tauchte das Bild von Francesca in Harts
Umarmung auf, und der bloße Gedanke daran war ihm noch immer unerträglich. Er
straffte sich. »Ich glaube, dir sind schon vor langer Zeit Hörner gewachsen,
Calder.«
»Danke.«
»Aber Hörner hin oder her – wenn es brenzlig wird, würde ich dich
jederzeit an meiner Seite haben wollen.«
Harts Augen weiteten sich. »Du wirst ja richtig sentimental,
Rick.« Dann
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