Brenda Joyce
ihr Bruder Evan mit Sarah Channing verlobt hatte, war zwischen dieser und
Francesca eine enge Freundschaft gewachsen. So groß die Unterschiede zwischen
ihnen, was die äußere Erscheinung und das Auftreten betraf, auch sein mochten
– im Grunde hatten die beiden Frauen vieles gemeinsam. Sarah war eine
leidenschaftliche Künstlerin und im tiefsten Herzen eine Bohemienne. Der
Gesellschaft mit ihren starren Regeln, der Zurschaustellung von Statussymbolen
und der strengen Etikette konnte sie ebenso wenig abgewinnen wie Francesca.
Einmal hatte Francesca aus ihrem Mund sogar die Ungeheuerlichkeit gehört, sie
wolle niemals heiraten. Sie selbst hatte kürzlich entschieden, entgegen den
Plänen ihrer Mutter ebenfalls ledig zu bleiben. Nun war Francesca jedenfalls
fest entschlossen, Sarahs Mutter, die offenbar in Schwierigkeiten steckte, zu
helfen. Dabei kam es ihr gar nicht in den Sinn, zu bezweifeln, dass sie dazu in
der Lage sein würde.
Francesca bezahlte den Kutscher und schritt
auf die Villa zu – ein noch recht neues, riesiges gotisches Gebäude. Während
das Droschkenpferd davontrottete, näherte sich bimmelnd eine Straßenbahn. Auf
dem oberen Absatz der Vordertreppe blieb Francesca vor der hölzernen
Eingangstür stehen, die wunderschön hätte sein können, wären da nicht die
grotesken Fratzen gewesen, die jeweils in der Mitte beider Türflügel prangten.
Nach dem Tod von Sarahs Vater hatte ihre Mutter, eine recht frivole und ein
wenig einfältige Dame der Gesellschaft, seine Millionen geerbt und umgehend
begonnen, dieses Haus zu bauen. Mrs Channing war nicht eben für Eleganz oder
guten Geschmack berühmt.
Auf Francescas Klopfen hin öffnete sofort ein
Bediensteter, der ihr mitteilte, Miss und Mrs Channing würden keinen Besuch
empfangen. »Möchten Sie vielleicht Ihre Karte hinterlassen?«, erkundigte sich
der Dienstbote, der eine rot-goldene Livree trug.
Aus seinen Worten folgerte Francesca, dass Sarah in ihrem Atelier
bei der Arbeit sein musste. Sowenig man es auch angesichts ihrer schlichten Erscheinung
und ihres schüchternen Auftretens vermutet hätte – tatsächlich war sie eine
brillante, ja sogar leidenschaftliche und kühne Malerin. »Mrs Channing hat
mich selbst benachrichtigt – ich bin überzeugt, dass sie mich empfangen wird.«
»Es tut mir Leid, sie hat sich in ihre Räumlichkeiten zurückgezogen
und angekündigt, sie werde nicht herunterkommen«, beharrte der Diener ernst.
In diesem Moment hastete ein Butler in die Eingangshalle.
»Goodard? Wer ist dort?«
»Eine Miss Francesca Cahill.«
Der Butler eilte herbei und blieb vor Francesca stehen. »Mrs
Channing wird Miss Cahill empfangen, Goodard.« Und mit einem vielsagenden
Blick zu dem Dienstboten fügte er hinzu: »Aufgrund der Vorfälle.«
»Welcher Vorfälle?«, erkundigte sich Francesca
rasch.
»Ich werde Mrs Channing Bescheid geben, dass
Sie gekommen sind«, war alles, was der stämmig gebaute Butler zur Antwort gab.
»Harold? Wer ist dort?«
Als Francesca Mrs Channings Stimme vernahm,
ging sie ein paar Schritte in die Eingangshalle hinein. Die Frau, die ihr von
der Treppe entgegenkam, konnte man nicht direkt als hübsch bezeichnen. Sie
hatte rötlich blondes Haar und war außerordentlich
vornehm, ja übertrieben prunkvoll gekleidet – eine Erscheinung, die an einen
flatterhaften Vogel erinnerte. Ihre Absätze klackten auf dem Marmorfußboden.
»Francesca! Dem Himmel sei Dank!« Sie schlug die Hände zusammen, doch
zugleich füllten sich ihre großen Augen mit Tränen. In einem ihrer Ringe
prangte ein Diamant von der Größe einer Eichel.
Francesca lächelte. »Hallo, Mrs Channing. Ich habe Ihre Nachricht
erhalten. Geht es Ihnen gut?«
Abigail Channing schüttelte wortlos den Kopf. Dann rauschte sie
auf ihre Besucherin zu, wobei sich ihre grünlich blauen Röcke bauschten. »Gott
sei Dank, dass Sie hier sind!«, rief sie aus. »Ich habe darum gebetet, dass Sie
kommen!«
Francesca blickte in ihre weit aufgerissenen,
dunklen Augen – was sich kaum vermeiden ließ, da sich das Gesicht der anderen
Frau nun mehr kaum fünf Zentimeter vor dem ihren befand. »Ist alles in Ordnung,
Mrs Channing? Sie wirken so aufgebracht.«
»Aufgebracht? Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich weiß nicht
mehr ein noch aus.«
»Aber was ist denn geschehen?«
»Eine Katastrophe hat uns ereilt«, verkündete Mrs Channing, wobei
ihr abermals Tränen in die Augen traten. »Ich habe Sarah gleich gesagt,
wir sollten Sie rufen! Aber sie hat sich
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