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Brennende Kälte

Brennende Kälte

Titel: Brennende Kälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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hatte. Die vier Latten, die jemand an den Rand des Weihers geworfen hatte oder die dort angeschwemmt geworden waren. Er winkte seinem Blutsbruder zu. Komm mit! Ich komme, rief der zurück. Dengler sieht sich das grüne Rad durch das flache Wasser zum Tunneleingang schieben. Sich auf das Rad setzen. Losfahren. In den ersten Gang schalten. Dem Blutsbruder noch einmal zuwinken.
    Das Licht, das vom Eingang in den Tunnel fiel, wurde bereits nach wenigen Metern Fahrt schwächer, verblasste dann ganz, und schließlich herrschte völlige Dunkelheit in der Röhre, stroboskopartig durchzuckt vom unregelmäßigen Flackern der Fahrradlampe. Schwer zu fahren war es trotzdem nicht, denn das Rad suchte sich fast von allein den Weg. Unheimlich, das war es schon. Dem schaurigen Gefühl entging er, indem er kräftig in die Pedale trat. Georg wollte seinem Blutsbruder imponieren. Es war der zweite Ferientag. Florian war wieder auf dem Hof. Der kleine Dengler hatte diese Fahrt in der Zwischenzeit oft geübt und wusste, dass sie im Grunde kein Risiko barg. Er kannte die Uhrzeiten, zu denen das Wasser vom Feldberg in den Tunnel schoss, und er hatte Übung. Er würde mit dem Rad aus dem Tunnel schießen, und hinter ihm würde knapp danach das Wasser kommen. Das war der Plan.
    Als es Zeit war, drehte er um. Das war mit dem Rad in dem Tunnel nicht einfach, aber auch das hatte er geübt. Wenn er das Vorderrad zur Seite klappte, ging es ganz einfach. Dann fuhr er zurück. Der Tunnel lief nun leicht bergab. Er konnte schneller fahren. Er trat kräftig in die Pedale. Die Lampe, vom surrenden Dynamo angetrieben, fl ackerte etwas heller.Trotzdem sah er das Hindernis nicht. Es hätte gar nicht da sein dürfen. Er krachte mit dem Vorderrad dagegen, das Hinterrad hob sich, und Georg wurde über die Lenkstange geschleudert. Er knallte mit dem Kopf gegen das Hindernis und verlor das Bewusstsein.
    Als er wieder zu sich kam, floss das Wasser bereits. Es war kalt. Erst floss wenig, zehn Zentimeter hoch, vielleicht auch fünfzehn. Aber der Pegel stieg rasch an. Georg rappelte sich auf, kroch unter dem Fahrrad hervor. Er zog sich an dem Hindernis hoch, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, was es war. Jemand hatte die Latten, die vorhin noch am Ufer des Weihers gelegen hatten, in die Röhre geschleppt, quer gestellt und mit der Röhrenwand verkantet, sodass ihm jetzt der Rückweg versperrt war.
    Langsam, ganz langsam wurde ihm bewusst, dass dies nur Florian getan haben konnte. Das Entsetzen darüber war stärker als die Angst vor dem Wasser, das nun schnell stieg. Er zerrte an einer Latte, aber er war noch zu benommen, als dass er genügend Kraft gehabt hätte, sie wegzuziehen. Sein rechter Fuß hatte sich in den Speichen des Vorderrades verhakt. Er bückte sich, um das Vorderrad anzuwinkeln, kam frei, dann richtete er sich wieder auf, um das Rad wegzuschieben.
    In diesem Augenblick kam das Wasser.
    Es erfüllte die Röhre und warf Georg mit einem Hammerschlag gegen die Latten. Das Rad bäumte sich unter dem Wasserdruck ein zweites Mal auf und wurde gegen Georg geschleudert. Er bekam keine Luft mehr und krallte sich an eine der Latten. Schluckte Wasser, Panik erfasste ihn. Er ruderte mit den Armen, schluckte noch mehr Wasser, schlug um sich, Todesfurcht packte ihn. Und dann verlor er das Bewusstsein.
    Dengler erwachte aus dieser Erinnerung wie aus einem schweren Traum.
    Tunnelblick – dieses Wort hatte ihn zurückgeworfen.
    So viele Jahre hatte er nicht mehr daran gedacht. Und noch heute wusste er nicht, was schwerer wog: die Enttäuschung, dass Florian ihn fast umgebracht hatte, oder die Panik in der Röhre voller eiskaltem Wasser.
    Er nahm das Bild von Florian Singer aus der Schublade und betrachtete es lange. Nein, es gab keine erkennbare Ähnlichkeit.
    Oder doch?
    Er griff zum Hörer.
    Sie muss mit mir reden.
    Er musste es wissen.
    Seine Mutter hob nach dem dritten Klingeln ab.
    »Ach Georg, das ist schön, dass du anrufst«, sagte sie.
    »Ich muss etwas von dir wissen.«
    »Ja, frag nur. Ich bin gerade beim Kochen. Schade, dass du so weit wegwohnst, sonst könntest du zum Essen kommen.«
    »Ich bin schon zum Essen verabredet. Ich wollte von dir etwas wissen. Du erinnerst dich doch an die ersten Feriengäste? An den Jungen aus Freiburg.«
    »Feldsalat gibt es auch. Den hast du doch immer so gerne gegessen.«
    »Den Jungen. Florian hieß er mit Vornamen. Erinnerst du dich?«
    »Die Spätzle sind immer noch in der Truhe.«
    »Mutter, erinnerst du

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