Brennende Kälte
dich?«
»Ach Junge, lass doch die alten Sachen ruhen. Das ist alles schon lange her. Wann kommst du mich wieder mal besuchen?«
»Es ist wichtig. Wie hieß der Junge mit Nachnamen?«
»Herrje, Junge, das ist so lange her.«
»Versuch es. Hilf mir.«
»Und wer hilft mir? Ich bin allein auf dem Hof. Die Pension. Wenn mir Marios Mutter nicht ab und zu helfen würde, ich wüsste nicht, wie ..«
»Wie hieß der Junge?«
»Ich hab's vergessen.«
Ihre Stimme klang nun trotzig.
»Hieß er Singer?«
Sie gab keine Antwort, sondern schien einen Augenblick lang nachzudenken.
»Nein. Singer hieß er nicht. Ich glaube, der hieß Metzger oder so ähnlich. Irgendwas mit Metzger, Metzler oder Schlachter, glaube ich. Aber Singer? Nein.«
»Ich danke dir, Mutter«, sagte Dengler und legte auf.
Er sah auf die Uhr. Zeit für das Mittagessen mit dem Sicherheitschef der Versicherung. Er verließ sein Büro und ging durchs Bohnenviertel hinüber ins Gerichtsviertel.
Es wurde ein angenehmes Gespräch. Die Versicherung sei höchst zufrieden mit seiner Arbeit, bestätigte der Mann und sprach wieder von der großen »positiven« Resonanz auf Denglers Abschlussbericht. Kein Wunder, dachte Dengler, die Burschen haben durch mich ein Vermögen eingespart. Sie saßen im Freien unter großen Bäumen und unter blauem Himmel im Ristorante Piazza, und als sie sich zum Abschied die Hand gaben, hatte Dengler einen neuen Auftrag.
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Jakob
Um halb drei Uhr traf Dengler seinen Sohn. Jakob war der eigentliche Grund, warum er nach Stuttgart gezogen war. Während seiner Zeit beim BKA in Wiesbaden hatte er Hildegard in einer Bar kennengelernt und sich sofort in sie verliebt. Nach einem Dreivierteljahr wurde sie schwanger, und sie heirateten sechs Wochen nach dem erfolgreichen B-Test. Dengler ging in die Ehe mit dem sicheren Gefühl, dass es diesmal die Richtige war. Oder anders ausgedrückt: Wenn es überhaupt so etwas wie die Richtige im Leben gab, dann war es Hildegard. Sie war dunkelhaarig, hochgewachsen, erinnerte ihn in Aussehen und Haltung an eine Spanierin. Tatsächlich besuchte sie einen Flamencokurs für Fortgeschrittene an der Wiesbadener Volkshochschule. Manchmal legte sie abends eine Bulería auf, zog ihr andalusisches Kostüm und die Schuhe mit den speziellen Absätzen an und tanzte nur für ihn. Zumindest so lange, bis sie sich im Bett wiederfanden oder die Nachbarn klopften.
Er mochte ihre Begeisterung. Ihre Begabung, sich ganz einer Sache hinzugeben. Etwas hundertprozentig zu tun. Darin war sie so ganz anders als er. Dengler wendete eine Sache zehnmal, hundertmal im Kopf hin und her, bevor er sie für richtig hielt oder für falsch. Dengler, der Grübler, so nannten sie ihn im Amt. Nicht ohne Grund: analysieren, erwägen, verwerfen, prüfen – das lag ihm schon immer, aber beim BKA vertiefte und verfestigte sich dieser Charakterzug, sodass er schließlich zu ihm gehörte wie eine zweite Haut.
Es überraschte ihn, als Hildegard ihre Begeisterung für den Flamenco von einem Tag zum anderen verwarf. Sie wandte sich dem Tango zu. Erstaunt erlebte Dengler, dass die gleichen Argumente, die den spanischen Tanz früher für sie einmalig machten, nun für den argentinischen ins Feld geführtwurden. Er war mit Jakob zum ersten Mal sechs Wochen allein, als Hildegard einen Kurs in Buenos Aires buchte. Danach hatte sie in Wiesbaden einen gewissen Ruf als Tangospezialistin, verdiente sogar zum ersten Mal spürbar zum Familieneinkommen dazu, als sie Tangolehrerinnen ausbildete.
Dem Tango folgte der Feminismus. Die Penetration, der männliche Anteil am Geschlechtsakt, wie Dengler es einmal verlegen hüstelnd und umständlich ausdrückte, sei der adäquate Ausdruck – auch diesen Jargon gewöhnte sich Hildegard in dieser Zeit an – für die Unterdrückung der Frau durch den Mann. Den vorsichtigen Einwand Denglers, er habe bisher den Eindruck gewonnen, dass sie das nicht als Übel empfunden habe, konterte sie: Ja, das stimme, aber auch sie sei noch rückständig. Auch sie habe sich noch nicht genügend frei gemacht von den Methoden männlicher Vorherrschaft.
Dengler stürzte in eine seiner schwersten Krisen. Er zweifelte an seiner Wahrnehmung. Nachts schien sie die Penetration, die sie tagsüber verteufelte, genauso zu genießen wie er. Also las er feministische Literatur. Er wollte wissen, wie Frauen, diese ihm plötzlich unverständlich gewordenen Wesen, wirklich funktionierten. Sie gab ihm Verena Stefans Häutungen, das den
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