Brennende Sehnsucht
Frauen attraktiv fanden. Ihr Haar hatte die Farbe von Sonnenschein, und ihre Augen waren von einem dunklen, funkelnden Blau, sodass Phoebe, die ihre eigenen himmelblauen Augen bisher immer gemocht hatte, das Gefühl bekam, ihre seien irgendwie ausgeblichen. Selbst die Pickering-Nase, die Phoebe nicht besaß und die an Sophie so hervorstechend war, verlieh Deirdre eine noble Eleganz, sodass Phoebe sich ein wenig unfein vorkam.
Da sie von der skrupellosen, nur an gesellschaftlichem Aufstieg interessierten Tessa erzogen worden war, machte
Deirdre das Beste aus ihren Vorzügen. Jedes Kleid, das sie erwarb, war schöner als das vorhergehende, und alle schmiegten sie sich perfekt an ihre außerordentliche Figur. Deirdre war angetreten, um zu gewinnen.
Bisher hatte sie auch die meisten Punkte eingeheimst. Keine von ihnen hatte bis gerade eben mit einem unverheirateten Herzog getanzt.
Zwar galt es zu bedenken, dass der Herzog an Deirdres Arm bereits über siebzig Jahre alt und von der kurzen Runde auf der Tanzfläche derart mitgenommen war, dass er fast zusammenbrach, aber darauf wäre man beim Blick in Deirdres triumphierende Augen nie gekommen.
»Jetzt wird sie unausstehlich«, murmelte Sophie vor sich hin. Phoebe musste zustimmen. In der vergangenen Woche hatte sie erkennen müssen, dass Deirdre verwöhnt, egoistisch und eitel war – j jetzt sah es so aus, als würde sie aufgrund dieses Coups geradezu unerträglich werden.
Als sie Tessa und Deirdre Seite an Seite stehen sah, war Phoebe von der Ähnlichkeit der beiden überrascht, die nichts mit gleichen Gesichtszügen, Augen oder Haarfarbe zu tun hatte. Jener überhebliche Zug in Tessas Haltung und Verhalten wurde von Deirdre perfekt gespiegelt.
Diese Tatsache erzürnte Phoebe, erregte aber auch ihr Mitleid. Als Kind in Lady Tessas Haushalt aufzuwachsen, konnte wahrlich nicht leicht gewesen sein, aber Deirdre war derart egoistisch, dass es Phoebe manchmal schwerfiel, ihr Mitleid aufrechtzuerhalten.
Sie erinnerte sich schwach an Deirdre als Kind, denn sie hatten manchmal miteinander gespielt, bis Deirdres Mutter gestorben war und ihr Vater Lady Tessa geheiratet hatte. Danach hatte es keine Familientreffen auf Thornhold mehr gegeben.
Sophies Familie war nie zu Besuch gekommen, denn Sophies
Mutter war seit einem Reitunfall vor vielen Jahren ans Bett gefesselt.
Obschon ihre Mütter Schwestern waren, schien es, dass Phoebe, Deirdre und Sophie überhaupt nichts gemeinsam hatten... außer dem Wunsch, das Pickering-Erbe anzutreten.
Deshalb waren sie hier, in London, teilten sich das Haus, damit ihre Zuwendungen länger reichten, und hielten nach den wenigen Herzögen Ausschau, die der Heiratsmarkt gerade zu bieten hatte.
»Ich bin froh, dass ich mir mit dir ein Zimmer teile«, flüsterte Phoebe Sophie zu.
Sophie blinzelte und drehte sich überrascht zu ihr um. »Wirklich?« Ein scheues Lächeln huschte über ihr knochiges Gesicht, dann war es auch schon wieder verschwunden. »Danke.«
Phoebe schaute ihre Cousine überrascht an. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Sophie... hübsch ausgesehen? Nein, das war unmöglich, oder? Das musste am Spiel von Licht und Schatten liegen, und vielleicht an ihrem ersten Schluck Champagner. Phoebe schaute sie sich genauer an.
»Was ist los?« Sophie wischte sich übers Kinn. »Hab ich den Fleck nicht wegbekommen?«
Nein, Sophie war so wie immer -leider unattraktiv.
Und sie, Phoebe, war leider kokett.
Nie mehr. Keine Männer. Keine zittrigen Knie. Keine geheimen Berührungen. Nichts mehr bis zu ihrer Hochzeitsnacht mit ihrem hoffentlich nicht allzu schrecklichen Ehemann, der sich hoffentlich nicht allzu sehr an so einer Kleinigkeit wie ihrer fehlenden Jungfräulichkeit störte.
Diese Episode heute Abend war nichts weiter gewesen als ein Augenblick außerhalb der eigentlichen Zeit, eine ungewöhnliche
Unterbrechung, ausgelöst von einem Moment der Panik. Er hatte sie aus einer unschicklichen Situation gerettet, und sie war ihm dafür dankbar gewesen.
Sonst nichts.
Wäre es nicht herrlich, wenn Marbrook in Wirklichkeit ein Herzog wäre?
Ja, herrlich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Viertes Kapitel
N achdem er die errötende Phoebe galant wieder in die Menge der Tanzenden geführt hatte, entdeckte Rafe seinen Bruder, Calder, der sich am anderen Ende des Ballsaals an eine Säule lehnte.
Manchmal wurde Rafe gefragt, ob es ihm so vorkäme, als schaue er in einen Spiegel, wenn er Calder anschaute. Es erinnerte Rafe immer an
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