Brennende Sehnsucht
Kämmchen, ihre Brille
saß ein wenig schief, und ein kleiner Schmutzfleck zierte ihr Kinn.
»Ihr habt nach mir gefragt, Tessa?«
Sophie mochte unscheinbar und ein wenig schüchtern sein, aber sie hatte eine Art, Menschen, die sie auf die eine oder andere Weise für geistig minderbemittelt hielt – was im Vergleich zu ihr selbst fast jeder war -, anzusehen, die Tessa jedes Mal wütend werden ließ.
So wie jetzt.
Phoebe schaute weg, als Tessa ihre Meinung über Sophies Haltung, ihr Benehmen und ihre Erscheinung äußerte. Sie versuchte, die gezischten Beleidigungen zu überhören und zugleich doch in der Nähe zu bleiben, damit Sophie nicht gänzlich ein Opfer von Tessas Wut wurde. Schließlich hatte Sophie Tessa von Phoebes unerklärlichem Verschwinden aus dem Ballsaal abgelenkt, was diese ihr sehr zugute hielt.
Feigling.
Oh ja.
Aber Tessa vergaß nichts, wenn sie sich erst einmal in Rage geredet hatte. »Und jetzt zu dir, Phoebe Millbury.«
Oje, wie Mr Marbrook so treffend gesagt hatte.
»Ich glaube nicht, dass deinem Vater dieser Hang zum Umherwandern gefallen würde. Soll ich ihm schreiben, dass du es dir angewöhnt hast, dich mit fremden Männern davonzustehlen?«
Phoebe japste nach Luft. »Aber das...« Vorsicht. Nicht lügen. »Ich bin Mr Edgeward in aller Form vorgestellt worden. Und ich bin nur auf die Terrasse gegangen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.« Was alles stimmte. Größtenteils.
Tessa kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. »Phoebe, dein Vater hat mich gebeten, gut auf dich aufzupassen.
Du willst doch nicht, dass es zu einem Vorfall kommt, oder?«
Phoebe wurde es kalt. Der Vorfall. So hatte der Vikar es immer genannt, wenn er es überhaupt über sich gebracht hatte, davon zu sprechen. Der Vikar hatte es doch wohl nicht Tessa erzählt? Nein, ganz sicher würde ihr Vater Phoebes peinliches Geheimnis doch nicht dem gehässigsten Lästermaul der Gesellschaft offenbaren – auch wenn Tessa fast so etwas wie eine Verwandte war.
Phoebe schloss die Augen. O Gott, wenn diese ganzen Leute nun Bescheid wussten? Sie öffnete die Augen und blickte entsetzt um sich. Die Frauen dort drüben, die die Köpfe zusammensteckten, redeten sie gerade über sie?
Sie konnte sie fast hören. »Da ist dieses Millbury-Mädchen, die mit dem Tanzlehrer durchgebrannt ist, als sie kaum fünfzehn war, er hat sie ruiniert und dann verlassen, könnt Ihr euch das vorstellen? Hat sie einfach sitzengelassen, halbnackt war sie, als ihr Vater sie am nächsten Morgen im Zimmer eines schäbigen, kleinen Gasthauses fand.«
Gleich würden sie sich umdrehen und sie ansehen, und dabei würde sich Missbilligung in ihren Augen spiegeln.
Es tut mir leid, wollte sie rufen. Ich wollte nicht schlecht sein. Ich war nur ein bisschen zu lange ein bisschen zu einsam gewesen. Ich bin ein bisschen zu weit gegangen.
Nein. Nein, sie stellte es sich nur wieder vor, wie schon so oft in den vergangenen zehn Jahren.
Niemand hatte je erfahren, was sie damals getan hatte. Der Vikar hatte jedes Detail verheimlicht, und von Terrence LaPomme, Musiker und Verführer junger Mädchen, hatten sie nie wieder etwas gehört.
Seither war sie ihrem Vater eine vorbildliche Tochter gewesen, hatte ihm nie mehr auch nur den kleinsten Anlass gegeben, an ihrem Verhalten zu zweifeln.
Mit Mr Marbrook allein auf der Terrasse, wie sie an seinem harten, muskulösen Körper hinabgeglitten war, seine großen Hände fest um ihre Taille, seine Lippen, die sie fast berührten...
... bis heute Nacht!
Eilig verbarg sie ihre Bestürzung, verdrängte die Welle der Sorge, die durch sie hindurchging. Tessa wusste nichts, und Phoebe hatte nicht vor, etwas an dieser Tatsache zu ändern.
Aber Tessa hatte gerade ein zuckersüßes Willkommenslächeln aufgesetzt, als sie das Paar, das auf sie zukam, begrüßte. »Deirdre, mein Liebling! Der Tanz lässt deine Wangen ganz reizend erblühen, nicht war, Durchlaucht?«
Phoebe schaffte es gerade noch zu knicksen, bevor Tessa ihr den Ellenbogen in die Rippen rammte, aber Sophie war ein wenig spät dran.
»Oh!«
Als sie sich wieder aufrichtete, sah Phoebe ihre Cousine Deirdre elegant am Arm des einzigen echten Herzogs im ganzen Saal auf sie zuschweben.
Wenn Sophie die am wenigsten attraktiven Familienmerkmale geerbt hatte, dann war Deirdre mit den guten gesegnet. Sie war gerade groß genug, um elegant, und gerade schlank genug, um stilvoll zu sein, und besaß trotzdem noch alle anderen Attribute, die Männer an
Weitere Kostenlose Bücher