Brennende Sehnsucht
gesorgt, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebte – hatte sie so gut wie fast geküsst! -, und dann hatte er seinem Bruder vorgeschlagen, sie zu heiraten? Wie ein... ein... Gesandter?
Sie hatte sich wieder einmal zum Idioten gemacht, wo sie
doch dem Vikar – und sich selbst! – hoch und heilig versprochen hatte, es nie wieder zu tun.
Ihre Brust schmerzte, als hätte sie viel zu lange nicht mehr geatmet.
Dann war der Vikar da und schloss sie ungelenk, aber herzlich in die Arme. Dieser bizarre Vorfall allein reichte aus, sie aus ihrer Starre zu lösen, schließlich küsste er ihr die Stirn und sagte die Worte, nach denen sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte.
»Das hast du ausgesprochen gut gemacht, meine Liebe. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Worte, die sie nie wieder hören würde, wenn sie diese Verlobung löste.
Alles war so klar. Wenn sie jetzt den Mund aufmachte und ihr Versehen zugab, würde es keine ungelenken Umarmungen mehr für sie geben, kein Lob. Sie wäre sofort wieder die Tochter des Vikars, die vom Wege abgekommen war und die wie ein Dieb überwacht werden musste, damit sie nicht in alte Gewohnheiten zurückfiel.
Alter Schmerz verband sich mit neuem, und Phoebe barg ihr Gesicht an der Weste des Vikars, was sie so viele Jahre lang nicht hatte tun dürfen. Als sie ihn umarmte, kam es ihr so vor, als sei er geschrumpft – ausgezehrt und dünn.
Gebrechlich. Was für ein seltsames Wort, um ihren mächtigen, groß gewachsenen Vater zu beschreiben.
Sie kniff die Augen fest zusammen, rief sich jenen Mann ins Gedächtnis, den sie immer gesehen hatte, selbst als er sich in jenen Mann verwandelt hatte, der nun vor ihr stand. Der Vikar war schon immer ein bisschen knochig gewesen und hatte bedrohlich gewirkt, aber jetzt kam er ihr nur noch verletzlich vor.
Der weiße Haarschopf, die buschigen Augenbrauen, die
die Schärfe seiner eisig blauen Augen akzentuierten, es war alles noch da, wenn auch dünner, weniger kräftig.
Irgendwann hatte alles ein Ende, auch das Alter. Sie hätte nie geglaubt, dass auch der Vikar irgendwann einmal sterben würde... bis jetzt. Der Schmerz so vieler verlorener Jahre wallte in ihr auf. So viel Zeit, die sie vergeudet hatten.
Es muss nicht mehr so sein.
Verantwortung legte sich schwer auf ihre Schultern. Es blieben ihm nicht mehr viele Jahre, durfte sie ihnen beiden da die Möglichkeit nehmen, dass es gute Jahre wurden? Das Vernünftigste, was sie jetzt tun konnte, war anzunehmen, was ihr angeboten wurde, und sich darüber zu freuen.
In diesem Moment kamen ihr die Tränen, heiße Tränen, die sich aus ihren Augen stahlen, obwohl sie sich große Mühe gab, sie zu unterdrücken. »Oh, Papa...«
Erstaunlicherweise legte der Vikar ihr nur den Arm um die Schulter und klopfte ihr ein wenig zu fest auf den Rücken. »Na, na, mein Liebes. Ich nehme an, eine Braut darf ein wenig die Fassung verlieren, solange es in der Familie bleibt, nicht wahr, Brookhaven?«
Brookhaven räusperte sich. »Darf ich annehmen, dass es nicht viele solcher Anlässe geben wird?«
Der Vikar gluckste. »Oh, seid unbesorgt. Meine Phoebe ist eine sehr vernünftige junge Dame.«
Meine Phoebe. Mein Liebes. Worte, nach denen sie sich gesehnt hatte.
Sie hatte unbeabsichtigt dafür gesorgt, dass die Träume ihres Vaters in Erfüllung gegangen waren.
Und was ist mit deinen eigenen Träumen?
Verzweiflung und Verlust vermischten sich mit der Sehnsucht nach mehr von dem spärlichen Lob ihres Vaters. Phoebe atmete tief an der nach Tabak riechenden Weste des Vikars, dann richtete sie sich auf und tupfte sich die Augen,
wobei sie das unterwürfige Lächeln der guten Pfarrerstochter auf den Lippen hatte. »Mylord, Papa, entschuldigt bitte, dass ich mich so gehen ließ. Mir geht es wieder gut.«
Und es stimmte.
Nein. So soll es nicht sein, und das weißt du auch.
Ja, es stimmte. Sie war mit einem noblen, gut aussehenden, reichen Mann verlobt, der sie zu einer der reichsten Frauen Londons machen würde, und zum vielleicht ersten Mal in ihrem Leben sonnte sie sich im bedingungslosen Lob des Vikars.
Was konnte daran nicht stimmen?
Etwas in ihrem Innern heulte ein letztes Mal verzweifelt auf, um dann dankenswerterweise endlich zu verstummen.
Achtes Kapitel
D ie Morgensonne schien noch durch die Fenster von Brook House, aber jeder Augenblick währte in Rafes wirbelnden Gedanken wie eine Stunde. Sofort nach Calders Aufbruch an diesem Morgen hatte er sich der Brandykaraffe gewidmet, aber die goldbraune
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