Brennnesselsommer (German Edition)
hören, was im Haus vor sich geht. Zuerst ist alles ruhig. Dann hören sie, wie jemand Geschirr stapelt und Wasser laufen lässt. Es klingt nicht sehr gefährlich, und sie wagen sich in den Flur. Hinten in der Küche sehen sie den alten Mann am Tisch sitzen. Die Krücke ist auf den Boden gefallen, den Kopf hat er in die Hände gestützt. Fränzi räumt dreckige Teller in die Spüle und füllt den Heißwasserkessel. Sie dreht sich nach den Kindern um und winkt sie herein. Herr Kastner schaut nicht hoch, und als sie sein Gesicht mustern, um zu sehen, ob er noch gefährlich ist, ist es ganz feucht.
»Wollt ihr spülen helfen?«, fragt Fränzi und drücktihnen zwei bräunliche Geschirrtücher in die Hand. Während sie einen Stapel verkrusteter Teller einweichen, Tassen mit Kaffeeresten und verschmierte Schüsseln ausspülen, sagt niemand ein Wort. Eigentlich ekelt sich Anja vor dreckigem Geschirr. Wenn sie Spüldienst hat, muss Mama immer erst die Teller abwaschen, bevor Anja sie in die Spülmaschine räumt. Aber hier gibt es keine Spülmaschine, und es ist so staubig, dass alles ganz grau aussieht. Flitzi wischt noch die Tischdecke ab, aber es lohnt sich kaum, sie hat so viele Löcher und eingebrannte Flecken. Zwischendurch werfen sie verstohlene Blicke auf Herrn Kastner, der sich nicht rührt und die ganze Zeit auf seine Hände starrt.
»Brauchen Sie etwas?«, fragt Fränzi schließlich. Herr Kastner hebt den Kopf und zuckt mit den Schultern.
»Ich komme mal vorbei und mache Ihnen ein paar Einkäufe. Und jetzt holen wir die Kaninchen.«
Herr Kastner sagt immer noch nichts. Er fährt sich mit der Hand über die Haare und schaut ihnen nach. Sie folgen Fränzi hinter das Haus, aber zuerst können sie nirgendwo Kaninchen entdecken, nur stapelweise alte Autoreifen, zerbrochene Flaschen und verklebte Farbdosen.
»Früher war er Malermeister«, sagt Fränzi. »Dann ist seine Frau gestorben.«
»Und wo sind die Kaninchen?«, flüstert Flitzi, die immer noch so erschrocken ist, dass sie sich nicht traut, normal zu sprechen.
Fränzi hebt ein verbogenes Wellblech hoch. Darunter im Halbdunkeln stehen vergammelte Kisten, aus denen feuchtes Stroh quillt. Fränzi beugt sich darüber und öffnet die Deckel.
»Hier sind die Kerlchen«, murmelt sie.
Anja und Flitzi versuchen, nicht einzuatmen. Es stinkt nach Schimmel und Kaninchenmist. Fränzi holt ein großes dunkelbraunes Kaninchen aus einer der Kisten und drückt es Anja in den Arm, die es erschrocken umklammert. Mit Kaninchen kennt sie sich nicht aus, sie hat noch nie eins gehalten, und dieses ist besonders groß und an den Pfoten feucht. Aber es bewegt sich kaum und liegt in ihren Armen wie eine Puppe.
»Ist es krank?«
»Kann gut sein«, sagt Fränzi, »der hat schon lange kein Licht mehr gesehen.« Am Nackenfell zieht sie das zweite heraus, ein graues mit seltsam milchigen Augen. Es sieht aus, als wäre es blind. Flitzi nimmt es, ohne zu zögern. Das dritte und vierte Kaninchen trägt Fränzi, und sie gehen langsam um das Haus herum zum Transporter, wo schon Käfige mit frischem Stroh bereitstehen. Vorsichtig setzen sie die Kaninchen hinein. Sie ducken sich in das Stroh und rühren sich kaum. Fränzi springt noch einmal aus dem Auto und verschwindet kurz im Haus. Während Anja und Flitzi warten, beobachten sie die Kaninchen, die benommen in der Ecke hocken. Gerade haben sie angefangen, sich Namen für sie auszudenken, da schiebt Fränzi die Transportertür zu und setzt sich hinter das Lenkrad.
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe eine Einkaufsliste geschrieben«, sagt Fränzi. »Er braucht Gemüse und Milch, solche Sachen.«
Eine Weile schweigen sie. Schließlich fragt Anja: »Meinst du, er hätte wirklich auf uns geschossen?«
»Ach was«, sagt Fränzi. »Er hat gar kein Gewehr.«
Anja und Flitzi helfen Fränzi noch, für die neuen Kaninchen alles gut einzurichten. Fränzi hat mehrere Ställe miteinander zu einem großen Gehege verbunden, so dass die Tiere tagsüber frei herumlaufen können. Doch die Kaninchen sind noch zu erschöpft, um die neue Umgebung zu erkunden. Sie hocken still in einer Ecke, dicht beieinander. Flitzi pflückt ihnen etwas frischen Löwenzahn, dann wird es Zeit, wieder zu Hause aufzutauchen.
Sie gehen langsam hinüber, durch das Gartentor, an den sauberen Beeten vorbei, die durch einen kleinen Graben von der Rasenfläche abgetrennt sind.
»Wehe, du erzählst etwas«, sagt Anja plötzlich.
»Wieso?«
»Na, meinst du etwa, wir
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