Brennnesselsommer (German Edition)
können von dem alten Mann und dem Müll und dem Gewehr erzählen?«
»Aber er hatte doch gar kein Gewehr«, ruft Flitzi.
»Trotzdem«, sagt Anja, »die schimpfen sonst und lassen uns nicht mehr zu Fränzi.«
Nichts zu sagen, ist besser als lügen. Lügen will Anja auf keinen Fall, sie weiß, wie sich das anfühlt, es brennt und quält beim Einschlafen, und wenn Mama neben ihr sitzt und ihr übers Haar streicht, drückt es in der Kehle.
Als sie ins Wohnzimmer kommen, hat sich die Frage erst einmal erledigt, es ist nämlich niemand da, nur ein Zettel liegt auf dem Esstisch:
Tante Nell ist zu Besuch, wir sind kurz spazieren, bis gleich! Kuss Mama.
Tante Nell ist eigentlich ganz nett. Sie lacht oft und sehr laut und lässt sich von dreckigen Hosen, verlorenen Hausschlüsseln und umgestoßenen Saftgläsern nicht beirren, obwohl sie eine Stadtpflanze ist, wie sie immer sagt. Tiere kennt sie nur aus der Entfernung, und wenn Hunde oder Katzen ihren Seidenstrümpfen zu nahe kommen, wird sie fuchsig. Sie war immer dagegen, dass die Familie nach Lauterbach zog.
»Was wollt ihr da?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Ihr werdet noch versauern, und glaubt bloß nicht, dass ich euch da besuchen komme.«
Natürlich kommt sie trotzdem, aber seltener als früher, und sie schimpft gern und laut auf die Mücken, den Güllegeruch, die Landjugend und das schlechte Einkaufsangebot in Lauterbach. Anja und Flitzi finden die Schimpferei lustig, weil sie klingt wie das Gequengel eines kleinen Mädchens, nur dass Nell riesig und mindestens fünfzig ist und ihr niemand das Quengeln verbieten kann. Manchmal, wenn Anja an kalten Wintermorgen auf den Schulbus wartet oder wenn sie ihre Freundin Luise aus der Stadt vermisst, die sie nicht mehr oft sieht, findet sie allerdings, dass Tante Nell doch ein bisschen Recht hat.
»Aber wir haben doch so viel Platz hier«, sagen die Eltern auf Tante Nells Einwände, als müssten sie sich verteidigen. »Und zu was für einem Preis! So ein Haus ist doch in der Stadt unerschwinglich. Wir mussten auch an die Kinder denken.«
Auf dem vielen Platz um das Haus herum stehen ein Brunnen, eine große Schaukel, ein Spielhäuschen, ein Schuppen, ein Unterstand für die Mülleimer, außerdem haben sie eine Hängematte und ein Badmintonnetz gespannt, zwei Sonnenschirme aufgestellt, einen Kräutergarten und Zierbeete angelegt. Der Garten ist viel Arbeit, und wenn Mama neben all den anderen Dingen, die sie tun muss, auch noch Unkraut jäten und Schädlinge bekämpfen muss, darf niemand ein falsches Wort sagen. Nur Tante Nell hat es schon fertiggebracht, über die Schönheit der Natur zu spötteln, als Mama mit verkratzten Armenzwischen den Rosen herumkrabbelte.
Als Mama und Papa mit Tante Nell vom Spaziergang zurückkommen, der wahrscheinlich einmal zum Dorfplatz und zurück geführt hat, feuert sie gleich eine Menge Fragen auf Anja und Flitzi ab. Die neue Nachbarin gehört auch dazu, und Flitzi sagt schnell, dass sie heute mit FränziKaninchen abgeholt haben, das ist ja die Wahrheit.
»Kaninchen«, sagt Tante Nell und reibt sich die Hände, »die schmecken wunderbar in Weißweinsoße, Thymian nicht zu vergessen.«
Das soll natürlich ein Nell-Scherz sein, aber Anja findet es überhaupt nicht lustig. In diesem Moment beschließt sie, Vegetarierin zu werden. Das wird zwar hart werden, ein Leben ohne Wiener Würstchen mit Ketchup, ohne Mamas selbst gemachte Hamburger, ohne Papas Brathähnchen. Aber sie kann ja wohl kaum Herrn Kastner die Kaninchen wegnehmen, um sie dann mit Thymian zu schmoren.
Tante Nell geht mit Mama und Papa in den Garten, stellt sich direkt an den Zaun und guckt neugierig hinüber. Drüben gräbt Fränzi gerade ein Beet um.
»Grüß Gott«, ruft Tante Nell beherzt hinüber. Fränzi winkt zurück.
»Sie sind also der gute Engel der Verfolgten?«
»Engel?«, ruft Fränzi. »Sehe ich so aus?«
Tante Nell kichert.
»Schon ein sonderbarer Engel«, murmelt sie, als sie zu Anja und Flitzi auf die Terrasse kommt. »Flügel hat sie nicht, eure Fränzi, aber die ist in Ordnung.«
Blumen gibt es in Fränzis Garten nicht. Sie braucht den Platz für die Tiere, und in dem neuen Beet will sie Karotten für die Kaninchen anbauen.
»Es werden auch größere Tiere kommen«, hat sie Anja und Flitzi erklärt. »Ich brauche jeden Zentimeter. Was meint ihr, wie viele Tiere unsere Hilfe brauchen.«
Anja stellte sich eine endlose Schlange armer Tiere vor, die alle darauf warten, in Fränzis Gnadenhof
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