Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
sauer, dass er anfängt laut zu werden. Er kann und will nicht verstehen, dass den Regierungen in London, Paris oder Washington sein Autogramm und sein Ehrenwort nicht wirklich ausreichen, um schnellere Waffenlieferungen zu veranlassen, auch wenn sich ohne diese modernen Waffen im Augenblick der Fortschritt der Rebellen in Aleppo nur in Metern messen lässt. Die Eroberung einer Moschee gilt schon als Erfolgsmeldung in diesem blutigen Stellungskrieg und der Verlust einer Seitenstraße als bittere Niederlage. Im Sommer 2013 dauert dieser Kampf um die größte Stadt Syriens schon ein Jahr. Die historische Altstadt ist von Djihadisten besetzt, viele oft mehrere hundert Jahre alte Häuser sind zerstört, der Basar liegt in Trümmern, ein Weltkulturerbe ist ausgebrannt.
Ein paar Monate nach diesem Gespräch liefern sich Einheiten der Freien Syrischen Armee und der Brigade ›Islamischer Staat im Irak und in Syrien‹ in Idlib erbitterte Straßenkämpfe. Es geht um die Kontrolle von Stadtteilen und Straßenkreuzungen. Über dreißig FSA-Kämpfer sterben. Einen gefangenen FSA-Kommandanten schlachten die aus dem Irak stammenden sunnitischen Extremisten regelrecht ab. Sie schneiden ihm die Kehle durch, berichtet der libanesische Daily Star. Auch in Aleppo brechen solche Kämpfe aus. In der Nähe von Latakia ermorden sunnitische Extremisten den führenden FSA-Kommandanten Kamal Hamami. Er hatte sie im Vertrauen auf das zugesagte freie Geleit besuchen wollen, um zwischen den Djihadisten und der FSA zu vermitteln. Statt seine Vorschläge anzuhören, erschossen sie Hamami, der auch Mitglied im Hohen Militärrat der FSA war. »Dies ist eine Kriegserklärung«, verkündete ein Sprecher dieses Militärrats, der sich als Oberkommando der Freien Syrischen Armee versteht. In den Brigaden dieser selbsternannten Gotteskrieger kämpfen Saudis, Iraker, Libyer, Ägypter, Tunesier, auch Kämpfer aus Tschetschenien sind gesichtet worden, gelegentlich sogar Deutsche. Um die siebzig Islamisten aus Deutschland sollen es Mitte 2013 laut Verfassungsschutz sein. Sie alle kämpfen für einen Gottesstaat und haben Gebiete, die sie kontrollieren, zu Emiraten erklärt, in denen sie unumschränkt herrschen nach den Gesetzen der Scharia. Widerstand, den die Bevölkerung solcher »Zwangsemirate« gegen diese Schreckensherrschaft im Namen Gottes leistet, schlagen sie blutig nieder. Der Krieg im Krieg hat spätestens Mitte 2013 begonnen.
Nach einer guten Stunde Gespräch Verabschiedung von dem FSA-Oberst Abdul Jabara Aqaidi, einem freundlichen Mann in den Fünfzigern. Bis zur Tür begleitet er uns:
»Passt auf, wo ihr hinfahrt. Es sind Flugzeuge in der Luft«, wiederholt er seine Warnung und deutet mit dem Zeigefinger zum Himmel. Dann fahren wir los. Unser Ziel ein Krankenhaus. Danach Türkei.
Dann verirrt sich Anwar in den Gassen von Aleppo. Unseren Bus lotst er durch einen auch ihm augenscheinlich nicht vertrauten Stadtteil. Wir geraten immer näher an die umkämpfte Altstadt. Dann das Bab al Hadid, eines der Tore zur Altstadt, eine wuchtige Torburg, davor zwei offensichtlich unbeschädigte Telefonhäuschen. Die Straßen von Trümmern übersät, menschenleer. Gespenstisch leer. Dann ruft einer im Bus panisch: »Wir sind falsch hier. Wir müssen weg.« Auf der Straße eindeutige Zeichen – das ist Scharfschützenland! Amar, der Fahrer, muss den Bus wenden, versucht Gas zu geben. Zu spät. Der erste Schuss. Er verletzt niemanden. Dann der zweite. Er trifft. Meinen Arm, meinen Bauch.
3 Syrien ist nicht Libyen!
»Kein Frieden ohne Syrien, kein Krieg ohne Ägypten.« Der Spruch ist alt, soll aber sagen, dass Syrien schon immer eines der Schlüsselländer des Nahen Ostens war, eine geographische und politische Zentralmacht, in der fast alle Konfliktlinien des Nahen und Mittleren Ostens zusammenlaufen, aufeinanderstoßen, sich oft genug aneinander reiben, was aber in der Vergangenheit selten zu einem gefährlichen Funkenflug geführt hatte. Bisher zumindest. Verglichen mit Syrien führte Libyen immer eine Randexistenz im Nahen Osten. Auch deswegen konnte die NATO in den Bürgerkrieg in Libyen eingreifen. Die Situation in Syrien ist weitaus komplizierter und komplexer.
Syrien als Brennpunkt im Nahen Osten: die Konflikte in der Übersicht:
Israel – der beste Feind
Die Grenze mit Israel: Beide Länder befinden sich offiziell noch immer im Kriegszustand. Gleichwohl wurde die von UNOBlauhelmen kontrollierte Waffenstillstandslinie auf den Golanhöhen, die
Weitere Kostenlose Bücher