Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
Iran drohen Vergeltungsschläge an. Russland kündigt an, hoch entwickelte Flugabwehr- und Antischiffsraketen zu liefern. Wenn das geschehe, sei eine rote Linie überschritten, droht Israel.
Die Eskalation ist da und schaukelt sich immer schneller hoch. Im Juli kommt es nach Berichten von CNN zum nächsten israelischen Angriff auf syrische Militäreinrichtungen. Nach diesen wie üblich von Israel nicht bestätigten Informationen haben am 5. Juli 2013 israelische Raketen ein Munitionsdepot bei Latakia zerstört. Dort sollen russische Antischiffsgeschosse vom Typ Jachont gelagert gewesen sein, die eine Reichweite von 300 Kilometern haben. Mit solchen Raketen können von Land aus Schiffe oder Bohrinseln angegriffen und zerstört werden. Solche Raketen in den Händen der Hisbollah sind für Israels Generäle ein ähnlicher Albtraum wie die Vorstellung, die schiitischen Erzfeinde Israels seien im Besitz von Chemiewaffen. Gleichzeitig radikalisiert sich aber auch die sunnitische Rebellenseite. Djihadisten übernehmen die Kontrolle über immer mehr von den Aufständischen kontrollierte Gebiete im Norden Syriens. Deren Hass auf den jüdischen Staat Israel unterscheidet sich nicht im Geringsten von dem Hass der schiitischen Hisbollah. Mit anderen Worten: Israel hat am Ende dieses Konflikts höchstens die Wahl zwischen Pest und Cholera.
USA – der zaudernde Riese
Die Angst Israels vor den syrischen Chemiewaffen mag auch mit dazu geführt haben, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, Mitte Juni 2013 seinen Tanz auf der von ihm selbst formulierten roten Linie beendete. Meldungen, dass Assad Chemiewaffen eingesetzt haben soll, gab es schon seit dem Frühjahr 2013. Nicht nur von den Rebellen, auch israelische Generäle, Franzosen und Engländer glaubten sichere Beweise in ihren Labors gefunden zu haben. Doch Obama zögerte; denn im August 2012 hatte er sich eindeutig auf eine rote Linie festgelegt und als Chemiewaffendoktrin der USA verkündet:
»Ich habe bis jetzt kein militärisches Eingreifen angeordnet. Aber für uns ist eine rote Linie überschritten, wenn eine ganze Menge chemischer Waffen bewegt oder eingesetzt wird. Das würde meine Kalkulation ändern.«
Er machte sich mit diesem Dogma zum Gefangenen seiner eigenen Politik. Wenn der Fall eintreten sollte, muss er dann nicht die US-Streitkräfte in einen neuen Krieg schicken, und das nach dem Rückzug aus dem Irak und dem angekündigten Rückzug aus Afghanistan? Die kriegsmüden Amerikaner würden ihm das nicht verzeihen. Obama hatte offensichtlich gehofft, mit seiner Drohung Assad abschrecken zu können. Doch der riskierte ein anderes Spiel. 2013 mehrten sich die Hinweise: Assad habe tatsächlich Chemiewaffen eingesetzt, wenn auch nur in kleinen Mengen. Laut New Yorker analysierte der ehemalige Geheimdienstoffizier Joseph Holliday, der den Konflikt für das Institute for the Study of War beobachtet, Assads Strategie folgendermaßen:
»Erst setzt er Artillerie ein, dann Bombardierung aus der Luft, schließlich Scud-Raketen. Chemiewaffen benutzt er Schritt für Schritt, damit wir uns an sie gewöhnen.«
Muss Obama nun seine Drohung wahrmachen, um diesem Gewöhnungsprozess vorzubeugen und Schlimmeres zu verhüten? Verlassen kann er seine Linie nun nicht mehr, es sei denn, um den Preis seiner Glaubwürdigkeit. Also militärisch antworten und damit ein neues Desaster im Nahen Osten riskieren? Vielleicht sogar einen zweiten Irak? Auf keinen Fall! Daher erst einmal hinausschieben und abwarten, lieber kurz vor aller Weltöffentlichkeit auf dieser dünnen roten Linie tanzen als sich in ein unberechenbares Abenteuer stürzen. Das war die erste Reaktion Obamas.
Zehn Monate nach dieser denkwürdigen und vielleicht später von ihm auch bereuten Pressekonferenz vom August 2012 verkündete Obamas Vize-Sicherheitsberater Benjamin Rhodes schließlich im Namen des Präsidenten:
»Nach intensiven Untersuchungen gehen unsere Geheimdienste davon aus, dass das Assad-Regime chemische Waffen, darunter das Nervengas Sarin, eingesetzt hat.«
Zwischen hundert und hundertfünfzig Menschen seien bei diesen Angriffen ums Leben gekommen. Das war am 14. Juni 2013. Eigene Soldaten nach Syrien schicken will Obama verständlicherweise nicht, auch nicht eine Flugverbotszone einrichten. Stattdessen verpflichtete er sich, die Freie Syrische Armee mit modernen Waffen zu beliefern. Nicht mehr nur Funkgeräte und Schutzwesten – das hatten die USA bisher geschickt – sollten es
Weitere Kostenlose Bücher