Brennpunkt Nahost
wie es unsere Tradition vorschreibt«, antwortet er etwas ausweichend.
»Mit allen Konsequenzen dieser Vorschrift?«
»Ja wahrscheinlich. Das schreibt unsere Religion so vor. Aber wir werden sehen.«
Dann entschuldigt er sich bei uns, er müsse beten gehen. Es sei Zeit. Tatsächlich ruft im gleichen Augenblick der Muezzin, und alle Angestellten des Gerichts eilen in den improvisierten Gebetsraum im zweiten Stock des ehemaligen Kulturzentrums, darunter viele streng blickende Salafisten, deren Galabayas über den Fußknöcheln enden, so wie Prophet Mohamed angeblich die seine getragen haben soll. Das Scharia-Gericht scheint fest in ihrer Hand zu sein. Etliche arbeiten für die Hilfsorganisation »A Shabab«, also »Jugend«, die versucht, Familien in Not zu unterstützen. Ihre Gelder, so geben sie offen zu, kommen aus Kuwait. Die konservativen Golfstaaten dominieren die Hilfsprogramme in Aleppo und haben sich dadurch einen gewichtigen Einfluss auf die Menschen und die Politik der Stadt gesichert. Das bestätigen uns auch immer wieder normale Aleppiner.
Nach dem Gebet bekommen wir die Erlaubnis, an einem Gerichtsverfahren teilzunehmen, in einem kleinen Raum im Keller.
Abu Ibrahim gegen Abu Abdul. Der Fall scheint kaum der Rede wert zu sein, ist aber typisch für eine Stadt im Krieg. Abdul hat einen Ladenraum von Abu Ibrahim gemietet und kann die Miete nicht mehr zahlen. Der Richter Ibrahim Idilbi lässt sich von beiden Seiten vortragen.
»Die Geschäfte gehen schlecht. Keiner hat mehr Geld, um einzukaufen, also nehme ich auch nichts ein. Ich kann daher keine Lebensmittel für meine Familie kaufen«, erklärt Abdul dem Richter verzweifelt. »Und ich brauche das Geld aus dem gleichen Grund«, antwortet Abu Ibrahim.
Man sieht ihm an, dass ihm sein Prozessgegner leid tut. Aber er könne nicht anders, schließlich müsse auch er seine Familie ernähren.
Der Richter, ein gedrungener rundlicher Mann mit langem Bart und ausrasierten Wangen, zögert nicht lange. Seine Entscheidung, mehr Schiedsspruch als Urteil: ein Monat Zahlungsaufschub. Dann müsse der Mieter allerdings zahlen. Wie? Das bleibt offen. Der Krieg wird dann sicherlich noch nicht vorbei sein.
»Wir müssen nachsichtig sein mit den Menschen«, erklärt uns der Richter, »Assads Krieg ist an allem schuld«. Auch daran, dass immer mehr gestohlen und eingebrochen wird, meint er.
Nach einigem Zögern ist Richter Idilbi bereit, uns das Gefängnis des Gerichts zu zeigen, ein dunkler Kellerraum, in dem sechs Gefangene zusammen mit einem Geistlichen auf einem auf dem Boden ausgebreiteten Teppich sitzen. Diese Kellerzelle ist offensichtlich mehr ein religiös aufrüttelndes Besserungszentrum als ein mit der Sharia drohendes Strafgefängnis. Von Zucht und Vergeltung kaum etwas zu spüren. Der Imam predigt mit sanfter Stimme und redet seinen Sündern ins Gewissen, sie mögen doch bitte ein gottgefälliges Leben führen. Die Sträflinge nicken einsichtsvoll und demonstrieren dem Kamerateam aus Europa ihre neue Frömmigkeit.
»Wenn ich wieder draußen bin«, erklärt ein junger Syrer, der wegen Einbruch für zwei Monate hier einsitzen muss, »dann bete und faste ich nur noch.« Er meint es ernst. Die Augen hat er schuldbewusst zu Boden gesenkt. Die Reue in Person. Als er fertigt ist, schielt er zu seinem Imam. Der nickt ihm zufrieden zu:
»Alles richtig gemacht!«
Rückfahrt nach Azaz am späten Nachmittag. Amar, unser Fahrer, stoppt nach einer Brücke über den Kuwaikfluss, der mitten durch Aleppo fließt und führt uns zu einer Gruppe von Männern. Sie stehen an der Böschung und starren auf das trübe Wasser.
»Das ist der Fluss der Toten«, erklärt Amar, »und das sind Menschen, die auf die Toten warten.« Im Fluss unter der Brücke haben diese Männer Metallreusen in die Strömung gestellt. »Damit fangen sie die Toten auf«, erklärt Amar flüsternd.
Die Toten – fast jeden Tag treiben hier Leichen an. Leichen mit Folterspuren, verdrehten Gliedmaßen, zerschlagenen Gesichtern, aufgedunsen, zu Tode gefoltert oder erschossen. Weiter oben flussaufwärts ist Assad-Land. Dort entsorgen Assads Geheimdienstler ihre Opfer im Fluss. Sie treiben flussabwärts und bleiben in den Reusen unter der Brücke hängen. Die Männer am Fluss? Sie suchen nach Angehörigen und werden auch fündig.
»Einmal sind hier innerhalb von zwanzig Tagen 200 Tote angespült worden. An einem einzigen Tag achtzig. Stell dir vor, achtzig«, der Mann erzählt uns das fast reglos, als könne
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