Brennpunkt Nahost
er das Gesehene immer noch nicht glauben. Unter den Toten sei auch sein Cousin gewesen. Alle hätten Folterspuren gehabt, wahrscheinlich stammten die meisten aus dem Gefängnis auf der Assadseite. Und dann sagt er noch:
»Man kann sie doch nicht im Wasser lassen. Man muss sie doch beerdigen. Wir sind doch Muslime.«
DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012
Eine seltsam gespenstische Stimmung liegt über der Stadt. Immer wieder hören wir, wie Artillerie Granaten abfeuert, dann fast zeitgleich die Explosionen dieser Granaten. Irgendwo in einem Vorort der Hauptstadt, fern, aber gut hörbar. Manchmal sieht man schwarze Rauchpilze aufsteigen. Auch fern, aber gut erkennbar. An diese Geräuschkulissen scheinen sich die Syrer in der Innenstadt von Damaskus gewöhnt zu haben. Die Straßen sind belebt, scheinbar unberührt von diesem Krieg am Rande der Stadt. Geschäfte sind geöffnet, einige haben sogar Obst- und Gemüsestände auf den Bürgersteigen aufgebaut: Tomaten, Zucchini, Kartoffeln, Zwiebeln, selbst Äpfel, Orangen oder Kirschen. Alles aber zu horrenden Preisen, wie Hausfrauen uns gegenüber klagen:
»Ihr macht uns mit euren Sanktionen kaputt. Die da oben spüren nichts davon.«
Fragen wir nach den Explosionen, schauen uns die Frauen nur kurz und erschrocken an, noch ein kurzer Blick auf den Begleiter vom Informationsministerium, dann hasten sie weiter. Antworten bekommen wir nur selten, und wenn, dann solche linientreue:
»Das sind Terroristen, die bekämpft werden müssen. Die sind von den Amerikanern und den Zionisten geschickt.«
»Und was wollen die?«
»Syrien zerstören. Was sonst? Das werden sie aber nicht schaffen.«
Ganz Damaskus scheint hinter Baschar al-Assad zu stehen. Kein Wunder; denn das ausländische Kamerateam wird von Geheimdienstlern misstrauisch beobachtet, außerdem haben wir immer diesen Begleiter vom Informationsministerium dabei, den jeder Syrer sofort als das Ohr des Polizeistaates durchschaut. Unter diesen Bedingungen die wahre Stimmung abzufragen? Kaum möglich in den Straßen von Damaskus.
»Wir leben in Syrien hinter einer Mauer der Angst«, hat mir einmal ein im Kairoer Exil lebender Syrer erklärt: »Ein falsches Wort, und der Geheimdienst kam.«
Jeder habe vor jedem Angst; der andere könnte ja ein Spitzel des Geheimdienstes sein. Selbst ein falsches Wort beim Zigarettenkauf an einem der vielen Kioske oder eine abschätzige Bemerkung über eine der ausliegenden Staatszeitungen kann den Käufer in Gefahr bringen, hatte mich in Damaskus der Oppositionelle Samy bei meinem Besuch im Dezember 2011 gewarnt. Der Verkäufer sei verpflichtet, alles Verdächtige sofort an die syrische Stasi zu melden, andernfalls riskiere er nicht nur seine Lizenz. Jeder weiß, was ihm bei der Polizei droht: Verhöre, Folter, Dunkelhaft auf unbestimmte Zeit. Permanentes Misstrauen sei ein Grundgefühl, mit dem das Regime seine Herrschaft zu festigen versucht. Die Menschen gegeneinander ausspielen, um so eine Solidarisierung zu verhindern. Die syrische Gesellschaft ist voll von zerstörerischer Korruption, vergiftet von Geheimdienstlern, Spitzeln, Folterern, Menschenverächtern. Eine Gesellschaft, in der der Vater dem Sohn nicht traut. Risse gingen manchmal mitten durch Familien. Nachbarn beobachteten sich argwöhnisch: Gerät der andere aus dem Gleichschritt der Diktatur und macht sich dadurch verdächtig? Geht er zu den Massenaufmärschen oder drückt er sich?
Allerdings wäre es leichtfertig und falsch zu sagen, alle Massenaufmärsche in Damaskus seien erzwungen, der Baschar-Jubel befohlen. Sicherlich auch, aber der relativ junge Präsident war beliebt und hatte in Teilen der Bevölkerung immer noch Rückhalt. Bei den Angehörigen seiner Religionsgemeinschaft, den Alawiten, ohnehin. Aber auch bei dem neuen Mittelstand der Großstädte, der dank des Wirtschaftsaufschwungs der letzten Jahre zu Wohlstand gekommen ist. Baschar al-Assad hatte kurz nach seinem Amtsantritt die sozialistische Friedhofswirtschaft seines Vaters zu einer lebendigen Marktwirtschaft reformiert: die Grenzen für ausländische Importe geöffnet und die Importzölle drastisch gesenkt, ein Finanzsystem geschaffen, das Anschluss an das internationale fand, und so den Zugang zu internationalen Märkten ermöglicht. Edelboutiquen bieten in Damaskus auch heute noch feinste Designerware aus Italien an. Wer das Geld hat, kann sich mit Armani-Anzügen einkleiden und anschließend in schicken Straßencafés sein neuestes iPhone oder iPad
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