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Brenntage - Roman

Brenntage - Roman

Titel: Brenntage - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Tante noch lebte (von meiner Mutter ganz abgesehen), schmeckten die Dinge noch, wie sie es sollten … Kaum saß ich mit dem Onkel allein beim Frühstück, schon erinnerte ich mich an den Geschmack der Pilze, Beeren, Kräuter und Backwaren, damals noch echte Leckerbissen, heute bestenfalls ein Vorgeschmack darauf, wie es munden könnte. Manchmal kam es mir so vor, als hätte
etwas
die Papillen unserer Zungen betäubt, alle lebten wir plötzlich (als wären unsere Sinne von einem Augenblick auf den anderen ex- oder implodiert) in einer uns immer unbekannter werdenden Welt. Wir erkannten unser Unvermögen, etwas daran zu ändern … Die Kinder der Siedlung, die Soldaten und Geister, alle verloren sich in einem ihnen einst vertrauten und nunmehr fremden Land.
    Gestern lief ich erneut zur großen Schlucht, setzte mich auf einen der Felsvorsprünge und ließ die Beine über die Kante baumeln, ich konnte allerlei Fabelwesen am Grund erkennen … Nashörner (mit spitzen Hüten), die ihre rohe Kraft darauf verwendeten, Grubenhunde aus den Schächten zu schieben, kecke Paviane schwangen aus Girlanden gebastelte Peitschen, Strauße (mit Habichtsschnäbeln) pickten sich verbissen in den Fels, und flinke Geckos huschten über die zahllosen Förderbänder, sie sammelten Goldstaub in ihrem Mund und durften unter keinen Umständen husten oder niesen.
    Ich erinnerte mich, dass mir der Onkel unlängst erklärte, vieles in unserer Sprache sei vor langer Zeit den Minen entsprungen … Der «Hund» (Förderwagen) war mir ja durchaus geläufig, «auf den Hund kommen» schien naheliegend, doch dass ein «Verwittern» und «die Luft ist rein» vonFrischluftzufuhr und Sprengvorgängen im Berg abstammten, da staunte ich tatsächlich. Auch «Staub aufwirbeln», «klamm» (rein) oder «auf Anhieb» (auf den ersten Hieb) bezeugten, dass wir (sprachlich gesehen) nach wie vor Kinder der Berge waren. Fröhlich stimmten mich die Worte «Eidechse» (eine bestimme Art von Förderwagen), «Frosch» (Bezeichnung für offene Grubenlampen») oder «Bär» (Gegengewicht … nicht zu verwechseln mit dem «Zacken-» und «Rutschenbär», dem Minenältesten bzw. Bandmeister). Wirklich lachen konnte ich bei den «Holzwürmern» (Minenarbeiter, die mit Holz hantierten), «Mutterklötzchen» (Holzabfall für den heimischen Ofen) oder «Butterzeiten» (den kleinen Mahlzeiten).
    Angeblich wurden die Flöze gern nach in der Gegend vorkommenden Vögeln benannt … «Geitling» (Drossel), «Nettelkönig» (Zaunkönig), «Wippsterz» (Bachstelze) und «Diker Stork» waren gängig, die ältesten Zechen wiederum hießen «Dannenbaum», «Eiberg» (Berg beim Wasser), «Langenbrahm» (Bram: Brombeere), «Hasenwinkel», «Steingatt» (Steintor), «Trappe», «Dahlbusch», «Bruchstraße» (Bruch: Wäldchen), «Wolfsbank», «Wolfsdelle» (Delle: Tal), «Poertingssiepen» (Siepen: Tal, geneigte Wiese), «Schürbank», «Sälzer» und «Alte Steinkuhle». Die Augen des Onkels leuchteten bei dieser Auflistung, und mir war klar, dass sich all diese Lagerstätten in der Nähe unserer Siedlung befinden mussten, und welche Dramen sich dort abgespielt hatten, gar nicht auszudenken.
    Bestimmt war auch die Schlucht einst Teil einer dieser Minen gewesen, bevor das Erdreich in sich zusammensackte und einen tiefen Graben zurückließ, ich meine, irgendwieschienen selbst die abstrusesten Gedanken mit einem Mal Sinn zu haben. In einiger Entfernung liefen plötzlich ein paar Soldaten in bläulichen Uniformen (solche hatte ich hier noch nie gesehen) aus dem Wald, sie sprangen (oder fielen) stumm in den Abgrund, verschwanden taumelnd für immer aus meiner Welt. Manche hielten einander dabei an den Händen, einige griffen nach den Jackenzipfeln ihrer Vorderleute und schlossen die Augen.
    Sie erinnerten mich an Schulkinder, die in Zweierreihen eine Straße querten, immer dem Lehrpersonal nach, jedoch längst ahnend, dass sie niemals auf der anderen Straßenseite ankommen werden.
Die Nashörner, Paviane und Strauße werden sich über diese Fracht von oben sehr wundern,
dachte ich noch,
vielleicht werden sie die zerschmetterten Leichname hoch auftürmen und ihre eigenen Brenntage feiern, um die Feuer tanzen und verzückt dem wallenden
(dunklen)
Rauch zusehen, der immer höher und höher steigt, bis er schließlich die große Schlucht verlässt und dorthin zieht, wohin sie niemals gelangen werden.
    Ich selbst erinnere mich kaum noch an das Jahr, in dem die Brenntage außer Kontrolle gerieten

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