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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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wären es mindestens sechzig gewesen. Mindestens.
    »Haben Sie von den – Nachrichten gehört, den Vorkommnissen auf Le Loc’h?«
    »Die Leichen?«
    Es klang, als gäbe es andere Nachrichten, die eventuell noch spektakulärer wären.
    »Genau.«
    »Ja.«
    Ihr Gesicht war vollkommen gleichmütig.
    »Und was denken Sie?«
    Sie blickte Dupin ein wenig erstaunt an.
    »Ich?«
    »Ja. Sie sind hier zu Hause.«
    »Sie sind der Polizist, der hier die Leute befragt, ja.«
    Es war keine richtige Frage gewesen. Er wusste, dass er nicht aussah wie ein Polizist, heute noch weniger als sonst.
    »Ja – nein, der ist schon weg. Ich bin – ein anderer Polizist.«
    Die junge Frau ließ sich von Dupins unbeholfener Antwort kein bisschen beeindrucken.
    »Sie liegen immer auf Le Loc’h.«
    »Ich weiß. Und was denken Sie, ist passiert?«
    Dieses Mal blickte sie richtiggehend verblüfft. Es entstand eine längere Pause, und Dupin nahm an, dass sie gar nicht mehr antworten würde.
    »Das kommt vor. Das Meer.«
    Dupin mochte ihre Art, auch wenn das Gespräch etwas mühsam war.
    »Ich danke Ihnen.«
    Sie stellte sich wortlos wieder in derselben Haltung an dieselbe Stelle, an der sie anfangs schon gestanden hatte. Dupin nahm das Tablett, eine der schon etwas zerfledderten Zeitungen, die auf dem Tresen lagen, verließ die Bar und setzte sich zurück an seinen Platz. Die eine der beiden Gruppen war lautstark im Aufbruch. Es waren keine Segler, bemerkte Dupin jetzt, sondern Taucher, er sah die Ausrüstung in den großen Taschen. Die Glénan, die ganzen Lagunenwelten, unzählige Male hatte er dies erzählt bekommen, gehörten zu den spektakulärsten Tauchparadiesen Europas. Natürlich vor allem die Kammer mit ihrer einzigartigen Unterwasserflora und -fauna. Und die Tauchschule der Glénan war eine Institution, wenn auch nicht so renommiert und groß wie die Segelschule. Die Gruppe schlenderte auf das Gebäude der Tauchschule zu, das etwas weiter vom Quatre Vents entfernt lag. Es gab nicht einmal einen Weg, man erreichte es über kurzes mosiges Grün.
    Der Hummer war unglaublich. War der bretonische Hummer, der etwas kleiner als der amerikanische und zudem dunkelblau war, mit seinem feinen weißen Fleisch schon eine besondere Delikatesse, so war der kulinarische Ruhm des Hummers der Glénan – ebenso wie derjenige der anderen Meerestiere des Archipels – sogar noch beträchtlicher. Er war selbstredend der »beste Hummer der Welt«, aber auch Dupin, der über den urbretonischen Hang zu Komparativen und Superlativen in Hinblick auf alles Bretonische manchmal noch schmunzelte (auch wenn er ihn im Großen und Ganzen mittlerweile eigentlich selbst verinnerlicht hatte), fand den Stolz hier vollkommen angebracht. Der Hummer schmeckte zart und zugleich ganz aromatisch, mit einer feinen nussigen Bitternote, die Dupin so mochte. Alles, was das Meer ausmachte, hatte man auf der Zunge, mit jedem Biss, magisch destilliert. Er überlegte, wo man ihn wohl auf dem Festland bekäme. Er würde Paul Girard, den Besitzer des Amiral , fragen. Vielleicht servierte er ihn sogar im Amiral selbst. Und sicher gab es ihn in den alten prächtigen Markthallen am Hauptplatz Concarneaus, die ohnehin ein Schlaraffenland waren. Sie erinnerten ihn an die Hallen im sechsten Arrondissement in der Rue Lobineau, die er schon als Kind geliebt hatte und die auch deswegen so großartig waren, weil sie morgens um sechs öffneten und erst um Mitternacht schlossen – was bei seinen bereits in Paris höchst unregelmäßigen Dienstzeiten ein großer Vorteil gewesen war. Vor allem aber waren sie lange Zeit ihr Lieblingsort gewesen, Claires und seiner. Hier hatten sie sich manchmal um zehn oder elf Uhr abends noch getroffen, nach der Arbeit, an einem bistroartigen Stand mit ein paar alten Holzstühlen, der vor allem Wein, Käse und Senf verkaufte. Dort hatten sie gesessen, die Menschen beobachtet, die eigene, wunderbare Stimmung zu dieser Zeit. Wein getrunken, nicht viel geredet.
    Dupin fiel ein, dass er Claire anrufen musste. Wollte. So war es, wenn er ehrlich war: Er wollte sie anrufen. Vor einigen Wochen hatte er sich mit Claire zum Telefonieren verabredet. Er hatte sie Anfang April angerufen, sie war auf dem Weg in die Klinik gewesen, und sie hatten ausgemacht, bald einmal länger zu telefonieren. Das hatten sie ebenfalls schon nach Weihnachten letzten Jahres getan, als sie etwas ausführlicher gesprochen hatten – auch um zu überlegen, ob sie sich nicht einmal treffen wollten,

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