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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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Abend nicht mehr gesehen worden.«
    »Ich werde die Kollegen anrufen. Ich denke, sie müssten bald in Quimper ankommen. Wie sind Sie auf …«
    »Rufen Sie dort an, Riwal. Alles andere kann warten.«
    »Verstanden, Chef.«
    Dupin legte auf.
    Er lief über den malerischen Holzsteg, der einmal um die gesamte Insel führte, immer am Meer entlang. Das »Innere« der Insel (so viel war es nicht) war karg, herb, er mochte es. Dorniges Gestrüpp, Himbeeren, Brombeeren, eine knappe Grasdecke, halbhohe Farne, hier und dort schimmernde Heide, Inseln grellgelben Stechginsters. Die Sandbank zwischen Saint-Nicolas und Bananec war vom auflaufenden Wasser bereits überspült. Sanfte, lange Wellen glitten vom offenen Atlantik in die Kammer. Genau inmitten der Sandbank waren zwei Männer zu sehen. Sie standen nicht mehr als knöcheltief im Wasser. Es sah vollkommen verrückt aus – es wirkte so, als würden sie über das Wasser laufen. Die Flut kam. Die Landschaft veränderte sich, das hieß vor allem: Das Land wurde noch weniger.
    Der Archipel war ein äußerster Vorposten des alten Kontinents. Man konnte es spüren, fand Dupin. Das letzte Ende vom Ende der Welt. Tatsächlich gab es zwischen den Glénan und der Küste Kanadas nichts mehr, kein Fleckchen Erde, nicht einmal eine öde Felsengruppe. Fünftausend Kilometer waren es, die man zurückzulegen hatte, bis man wieder festen Boden unter die Füße bekam. Fünftausend Kilometer Wasser. Des wildesten Meeres der Welt. Und viel Land war es eben nicht, dieses allerletzte Stück. Dupin dachte an den Sturm der vergangenen Nacht. Dieses allerletzte Stück Land war keine feste Landmasse, nicht annähernd, es waren wüst gesetzte, chaotisch gezogene, unförmige Landkleckse – was die beliebten Luftaufnahmen eindrucksvoll zeigten. Die letzte Bastion Land war eine sehr fragile Bastion.
    Dupin war langsam um die nördliche Spitze der Insel herumgelaufen. Er schaute nun Richtung Westen. Der Klingelton seines Handys durchbrach die Stille. Es war Kadeg. Dupin nahm ab.
    »Negativ.«
    Kadeg hörte sich hektischer als gewöhnlich an.
    »Was meinen Sie, Kadeg?«
    »Er ist es nicht.«
    »Es handelt sich bei keinem der drei untersuchten Toten um den vermissten Angler? Den Mann aus Île-Tudy?«
    Dupin hatte den Satz so auführlich formuliert, um zu frohlocken. Weil er mit seinem Gefühl richtiggelegen hatte und Kadeg falsch.
    »Nein.«
    »Ist er denn wieder aufgetaucht?«
    »Nein. Aber sie haben sich die Leichen anhand des Fotos genau angesehen, es ist gänzlich ausgeschlossen, dass er es sein könnte.«
    In Kadegs Stimme lag unumwundene Enttäuschung. Und ein wenig Pein. »Dann haben wir einen Vermissten, der keiner der drei Toten ist – und drei Tote, von denen bisher keiner vermisst wird.«
    Kadeg wusste offensichtlich nicht, was er auf Dupins Anfall komischer Formulierkunst antworten sollte, und schwieg.
    »Gut, Kadeg, so ist die Lage.«
    Dupin legte auf.
    Er gab zu, dass auch er, so makaber es war, und aus anderen Motiven als Kadeg, nicht unglücklich gewesen wäre, wenn es sich bei dem Vermissten um einen der drei angeschwemmten Toten gehandelt hätte. Um überhaupt irgendeine Spur zu haben. Dann hätte man wahrscheinlich rasch herausgefunden, wer die anderen beiden Toten waren.
    Dupin war erneut stehen geblieben. Er überlegte umzukehren, aber es sah so aus, als wäre er schneller wieder am Quatre Vents, wenn er dem Weg einfach folgte. Man sah die Bar von hier zwar noch nicht – eine Düne zog sich längs über die Insel –, aber es konnte nicht mehr weit sein.
    Dupins Blick glitt unbestimmt in die Ferne, über das Meer, ein tiefes Ultramarin am Horizont. Dass das Meer blau sei, das hatte Dupin aufgehört zu sagen. Denn es stimmte nicht: das Meer war nicht einfach blau. Nicht hier in dieser magischen Lichtwelt. Es war azur, türkis, cyanblau, kobaltblau, silbergrau, ultramarin, helles Wasserfarbenblau, bleigrau, nachtblau, violettblau … Blau in sicher zehn, fünzehn verschiedenen Grundtönen und schier unendlich vielen Zwischentönen. Manchmal war es sogar grün, richtig grün oder braun – und tiefschwarz. All das hing von mannigfaltigen Gegebenheiten ab: der Sonne und ihrem Stand natürlich, der Jahreszeit, der Tageszeit, auch vom Wetter, dem Luftdruck, dem genauen Wassergehalt in der Luft, der alles Licht je anders brach und das Blau in diesen oder jenen Ton verschob, in besonderer Weise von der Tiefe des Meeres und dem jeweiligen Meeresboden, auf den das Licht fiel. Es hing auch vom

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