Bretonische Verhältnisse
Dupin an den Quais entlang. Er hatte das blöde Telefonat von eben fast vergessen. Der ganze Fall schien wie ein wirrer dunkler Traum hinter ihm zu liegen; auch wenn er wusste, dass er ihn noch lange beschäftigen würde, lange über die bürokratische Abwicklung hinaus.
Ihm war eingefallen, was er unbedingt noch tun wollte. Er holte sein Telefon hervor.
»Monsieur Dupin?«
»Guten Abend, Madame Cassel.«
»Soll ich mich aufmachen? Wo wollen wir uns treffen?«
Dupin stutzte kurz, dann musste er lachen.
»Nein – nein. Ich …«
»Ich höre Sie sehr schlecht. Es ist so laut bei Ihnen, wo sind Sie?«
»Ich bin in Concarneau, auf dem Festival des Filets Bleus – ich meine, ich gehe unten am Hafen entlang und heute findet hier das Festival statt. Ich muss durch die ganze Stadt laufen, man kommt mit dem Wagen nicht in die Innenstadt.«
Er wusste, dass er konfus redete.
»Ich verstehe. Und war es der letzte Akt, haben Sie den Fall gelöst?«
»Ja. Der Fall ist gelöst. Es …«
»Lassen Sie nur.«
Dupin war froh über diesen Satz.
»Das war ein verrückter Fall. Haben Sie immer so verrückte Fälle?«
»Ich weiß nicht.«
»Sie haben einen verrückten Beruf.«
»Finden Sie?«
»Wie in einem Kriminalroman.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Ihre Welt scheint mir ehrlich gesagt nicht weniger verrückt.«
»Sie haben recht.«
Es war jetzt schon sehr laut, Dupin näherte sich dem Hauptplatz, eine Band spielte auf der größten Bühne. Es gab vier Bühnen.
»Tja – dann, dann – ich meine, wir sehen uns ja sicher eines Tages wieder. Am Ende der Welt verliert man sich nicht.«
Dupin musste lachen. Er mochte, wie sie Dinge sagte.
»Warten Sie – einen Augenblick.«
Er bog rechts ab. In eine kleine Straße, wo es ein wenig leiser war.
»Sie wohnen doch in Brest, nicht?«
»Ja. Fast am Stadtrand, direkt am Meer. Wenn Sie vom Westen …«
»Mögen Sie Pinguine?«
»Pinguine?«
»Ja.«
»Mag ich Pinguine?«
»Gehen Sie manchmal ins Océanopolis ?«
»O ja, natürlich.«
»Die haben wunderbare Pinguine. Eselspinguine, Adeliepinguine, Königspinguine, Kaiserpinguine, Zwergpinguine, Schopfpinguine, Gelbaugenpinguine, Brillenpinguine.«
Jetzt musste Marie Morgane Cassel laut lachen.
»Ja, Pinguine sind wunderbar.«
»Wir könnten einmal zusammen die Pinguine besuchen.«
Es entstand eine kleine Pause.
»Das machen wir. Sie haben meine Nummer.«
»Habe ich.«
»Dann au revoir Monsieur le Commissaire.«
»Au revoir Madame Professeur.«
Sie legten beide gleichzeitig auf. Einen Augenblick später fiel Dupin ein, dass er sich eigentlich auch hatte bedanken wollen bei Madame Cassel. Einmal ganz offiziell, für all die Hilfe, ohne die er nie so weit gekommen wäre. Offiziell im Namen der Polizei. Das würde er ein anderes Mal tun.
Dupin ging zum Quai zurück, weiter zum Hauptplatz, dem Quai Pénéroff, wo auch das Amiral lag. Das Festival schien ihm noch ausgelassener zu sein als in den letzten Jahren. Es war bereits sein drittes Festival. (Was er niemandem so sagte; Nolwenn hatte erklärt, dass er das frühestens ab dem zehnten oder fünfzehnten erwähnen dürfe.)
Das Festival des Filets Bleus war, so lustig es auch zugehen mochte und so sehr der Alkohol, wie bei allen bretonischen Festen, eine tragende Rolle spielte, für jeden Concarnesen eine höchst emotionale Angelegenheit. Es war nicht bloß – natürlich – das wichtigste Fest der Stadt, es war ein glanzvolles Symbol. An diesem Tag feierten sich die Concarnesen selbst: ihre Kraft, in schlimmsten Zeiten nie die Zuversicht zu verlieren, jedwede Unbill gemeinsam zu überstehen. Jedes Kind kannte die Geschichte – und erzählte sie. Nolwenn erzählte sie jedes Jahr. Drei, vier Wochen vor dem Festival kam sie wie zufällig auf das Thema: Bis ins späte 19. Jahrhundert war die Sardine das selbstverständliche Gold der Bretagne gewesen, achthundert (!) Boote wies alleine die Sardinen-Fangflotte in Concarneau auf. Im Büro hatte Nolwenn einen großen Stich, der einen Teil der Flotte auf dem Meer zeigte, vor der Einfahrt in den Hafen – vom Wasser war nicht viel zu sehen, so groß war die Anzahl der Boote, die dicht nebeneinander lagen. Nicht nur die Fischer, auch eine ganze Industrie lebten von dem launischen Wanderfisch, der sich in gigantischen Schwärmen bewegte. Im Jahr 1902 verschwand die Sardine von einem Tag auf den anderen, spurlos – für ganze sieben Jahre. Fischer, Fabrikarbeiter und viele andere Menschen wurden arbeitslos,
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