Briefe an eine Freundin
eine Emsigkeit, als gelte es das Leben, das ruhige und stille Tal zu erreichen. Ich habe in der Schweiz und Italien viel größere und eigentlich auch schönere Wasserfälle gesehen, der hiesige gehört doch nur zu den kleineren. Aber seine Länge und die Verschiedenheit, bald senkrecht steiler, bald bloß einer mehr und minder schiefen Fläche ähnlicher Abhänge, gibt ihm wieder eine Mannigfaltigkeit, welche jene nicht haben. Ich bin in meiner Erzählung sehr ausführlich gewesen, weil ich weiß, daß es Ihnen an sich interessant sein wird, noch mehr aber, weil ich gewiß bin, daß Sie mich gern mit Ihren Gedanken begleiten und darum gern ein anschauliches Bild von einem Ort empfangen, der, soviel ich weiß, noch wenig beschrieben ist. Sie sehen zugleich, die Sie meine Neigung, mich an einer schönen Gegend zu erfreuen,
kennen, daß mir die Zeit recht angenehm hingeht.
Auf der Herreise besuchte ich auch München und blieb vier Tage dort. Es ist von Kunstschätzen sehr viel und unendlich Schönes da zu sehen. Der König hat sehr viel antike Statuen und Gemälde zusammengekauft und läßt Gebäude mit königlicher Pracht aufführen, um sie darin aufzustellen. Dem Klima nach ist allerdings, wie Sie sagen, München keine angenehme Stadt. Im Sommer kann man das zwar nicht eben merken, allein es liegt auf einer sehr hohen Fläche und hat daher nicht bloß einen sehr strengen Winter, sondern auch sehr scharfe und unangenehme Winde. Vorzüglich klagt man über die Frühjahre und Herbste. Die unmittelbare Gegend rund herum ist auch nicht schön, sondern eher häßlich zu nennen. Bloß der englische Garten gewährt einen angenehmen Spaziergang und ist eine wirklich schöne Anlage.
Leben Sie recht wohl. Mit herzlicher Freundschaft und Teilnahme Ihr H.
Tegel
, den 21. September 1827.
I hre beiden Briefe vom 4. und 15. d. M. sind mir, liebe Charlotte, richtig zugekommen und ich danke Ihnen recht herzlich dafür. Sie haben mir beide besondere Freude gemacht, da sich die Gesinnungen, die Sie mir schenken, darin gerade auf die angenehmste
und mir gefälligste Art aussprechen. Es war mir auch eine erfreuliche Überraschung, daß mir der erste dieser Briefe unerwartet kam, also eine liebe Zugabe außer der Regel, weshalb Sie gewiß nicht um Verzeihung bitten dürfen. Ich erbitte mir nur Ihre Briefe auf einen bestimmten Tag, weil Sie das gern haben. Wenn ich neulich äußerte, daß es mir lieber sei, auf den Tag, nicht früher und nicht später, den Brief zu erhalten, so sagt das nicht, daß mir nicht immer einer mehr, welchen Tag er eintreffen möge, angenehm sei.
Was mir am erfreulichsten in Ihrem Briefe ist, ist vor allem das, was Sie mir über Ihre immer zunehmende Heiterkeit und Zufriedenheit sagen. Es ist das ein sicheres Zeichen, daß Ihre Seele jetzt in einer Stimmung ist, die aus einer Ihnen ziemlich zusagenden äußeren Lage und Schicksalen hervorgeht. Erhalten Sie sich so viel als möglich darin, liebe Charlotte. Der Mensch kann immer sehr viel für sein inneres Glück tun, und was er äußeren Ursachen sonst abbetteln müßte, sich selbst geben. Es kommt nur auf die Kraft des Entschlusses und auf einige Gewöhnung zur Selbstüberwindung an. Diese aber ist die Grundlage aller Tugend sowie aller inneren, größeren Gesinnung. Sie sagen in Ihrem Briefe vom 15. September: »Ich weiß, daß alles, was mich eigentlich jetzt beglückt, so bleibt, wie es ist.« Gewiß, liebe Charlotte, dürfen Sie nicht fürchten, daß ich je anders gegen Sie werden würde, als ich jetzt bin. Sie befolgten es einmal,
und obgleich auch damals Ihre Besorgnis unbegründet war, konnte sie dennoch damals eher entstehen. Es sind seitdem über zwei Jahre verflossen, und Sie haben gesehen, wie unnötig Ihre Besorgnisse waren, und nicht die leiseste Umänderung eingetreten ist, und das Verhältnis unter uns dadurch zu dem geworden ist, was Ihnen das liebste ist, und die Gestalt angenommen hat, die Ihnen am meisten zusagt. In mir ist eine Änderung wahrhaft unmöglich. Ich nehme den herzlichsten Teil an Ihnen und Ihrem Schicksal, wünsche Ihr Glück, trage gern zu Ihrer Freude bei, gebe gern Ihren Wünschen nach, wo es sich so tun läßt und so geschehen kann, daß ich nicht aus meinem inneren Kreise herausgehe. Für mich erwarte ich nichts, Sie können Ihrem Charakter und Ihren Gesinnungen nach mich nie täuschen, aber ich kann auch von niemandem getäuscht werden, da ich von keinem auf etwas Anspruch mache, mich keinem mit Erwartungen
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