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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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daß Wassernixen den am Ufer Sitzenden herabzögen. Es zieht wirklich hinab, und es ist einem bisweilen dabei, als könnte man nur so niedersteigen, um da ewig zu ruhen, als müßte man es. Es ist in diesem Gefühl gar kein Unwille mit der Erde, kein Überdruß an dem, was sie bietet, es ist die reine Luft am feuchten Element. Es ist überhaupt ein Vorurteil, wenn man meint, daß das Vergnügen an der Natur gerade eine schöne Gegend erfordere. So unleugbar es ist, daß diese den Reiz unendlich erhöht, so ist der Genuß überhaupt nicht daran gebunden. Es sind die Naturgegenstände selbst, die, ohne auch für sich auf Schönheit Anspruch zu machen, das Gefühl anziehen und die Einbildungskraft beschäftigen. Die Natur gefällt, reißt an sich, begeistert, bloß weil sie Natur ist. Man erkennt in ihr eine unendliche Macht, größer und wirksamer als alle menschliche, und doch nicht furchtbar. Denn es ist, als strahlte einem jeder Naturgegenstand immer
etwas Mildes und Wohltätiges entgegen. Denn der allgemeine Charakter der Natur ist Güte in der Größe. Wenn man auch wohl von schauderhaften Felsen, schrecklich schönen Gegenden spricht, so ist die Natur niemals furchtbar. Man wird bald mit der wildesten Felsenschlucht vertraut und heimisch in ihr, und empfindet, daß sie dem, der einsiedlerisch zu ihr flüchtet, gern Ruhe und Frieden beut.
    Die gedrückte und schwermütige Stimmung, deren Sie erwähnen, tut mir sehr leid, und es rührt mich, wie unverkennbar sie durchscheint, daß Sie dabei so wenig und kurz verweilen, um sie mir zu entziehen. Ich weiß und fühle sehr wohl, daß in einem nicht sorgenfreien, eher sorgenvollen Leben unangenehme, verdrießliche Vorfälle widrige Störungen hervorbringen und der nach Ruhe schmachtenden und der Ruhe so innig bedürfenden Seele schmerzlich entgegentreten – aber es sind diese Stimmungen dennoch den Wolken zu vergleichen, die auch bald licht und hell, bald dicht und finster getürmt einherziehen. Es läßt sich auch da nicht immer sehen, woher sie kamen, wohin sie ziehen, aber die Sonne verscheucht sie. Die Sonne für das Gemüt ist der Wille. Allein, wenn dies sehr leidet, reicht er nicht aus. Wir bedürfen dann Glauben. Glaube kann uns allein über das kleinliche tägliche Leben und irdische Treiben erheben, der Seele eine Richtung aufs Höhere geben und auf Gegenstände und Ideen, die allein Wert und Wichtigkeit haben. Es gibt
etwas, das Ihnen nicht fehlt, ja, das Ihnen, liebste Charlotte, innewohnt, das Sie auch gewiß höher achten als alles, was man äußerlich und innerlich Glück zu nennen pflegt. Es ist der Friede der Seele. Er wird nach Verschiedenheit der menschlichen Richtungen auf sehr verschiedenen Wegen gewonnen und erhalten. Der im äußeren Glück und selbst Glanz Lebende bedarf dieses Friedens ebensosehr als der mit Kummer und Sorgen Beladene. Aber er erlangt ihn schwerer. Denn jeder Friede ist ein einfaches Gefühl, das in verwickelten Verhältnissen schwerer gewonnen wird. Es beruht freilich auf Ruhe und Reinheit des Gewissens, damit allein aber ist es nicht errungen. Man muß sich zufrieden mit seinem Schicksale empfinden, sich mit Ruhe und Wahrheit sagen, daß man das Schicksal nicht anklagt, sondern wenn es glücklich ist, mit Demut, und wenn es unglücklich ist, mit Ergebung und mit wahrem Vertrauen in Gottes weise Führung empfängt. Da die schwerere, sorgenvollere Lage auch das Verdienst erhöht, sich ohne Klage zu finden und sich in ihr zu erhalten, oder aus ihr herauszuarbeiten, so gelangt man auf diesem Wege zur harmonischen Übereinstimmung mit dem Geschicke, wie es auch sein möge. Sie, liebe Charlotte, wissen und üben das alles selbst. Sie brauchen nur in sich und mit Vertrauen auf Ihre innere Kraft davon Gebrauch zu machen, und Sie werden gewiß die schwere und niederbeugende Stimmung, über die Sie jetzt klagen,
überwinden, wenn sie nicht anders einen äußeren Grund hat, den ich nicht kenne, der aber freilich sehr einwirkend sein kann und von mancherlei Art. Wie sehr wünsche ich, daß alles, was Sie in Wahrheit oder in der Vorstellung drückt, im alten Jahr zurückbleibe und das neue heiter und froh beginne. Mit diesen herzlichen Wünschen Ihr H.
     
     
Berlin
, Januar 1828.
     

    D er Abschnitt eines Jahres hat immer eine gewisse Feierlichkeit, meiner Empfindung nach mehr und ganz anders als ein Geburtstag. Dieser bezieht sich immer nur auf eine Person, und für den, der ihn sonst erlebt, ist er nur ein Abschnitt im Abschnitte des

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