Brigade Dirlewanger
Karen nimmt am Untergang der polnischen Hauptstadt wenig Anteil. Sie weiß nicht, daß auch Paul Vonwegh in Warschau eingesetzt war.
Und doch kann sie es kaum fassen, daß sie seit einer Woche in Schweden ist, in einem neutralen Land, in einer Oase des Friedens mitten im Krieg.
Alles war so reibungslos gegangen, daß sie bis zum letzten Moment eine Falle befürchtet hatte.
Alle jene Sachbearbeiter, die sonst Sand ins Getriebe der Menschlichkeit streuten, die Schranzen des Systems, wie ihr Vetter Wulf-Dieter Brillmann, waren auf einmal so freundlich zu Karen, als bastelten sie alle schon an ihrem Alibi für morgen. Prompt fertigten sie die nötigen Ausweispapiere aus.
Dann erlebte Karen das erregendste Abenteuer jener Jahre: die Ruhe des Friedens, die Geborgenheit.
Wie klein wird der Mensch, wenn er diese Größe spürt, wenn er dem banalsten, erhabensten, schlichtesten und größten Wunder der Erde gegenübersteht: dem verleugneten, verratenen, verkauften, mißbrauchten, vergessenen und ersehnten Frieden!
Karen mußte ganz klein wieder anfangen, mußte sich an die selbstverständlichsten Dinge des Alltags gewöhnen, die banal sind, wenn man sie hat, und deren Wert man erst erkennt, wenn man sie verliert: an das Singen der Vögel, das Lachen der Kinder, an die Pärchen, die eng umschlungen durch die Anlagen der Stadt zogen und ihr Glück so wenig vor den anderen verbargen, wie die anderen daran Anstoß nahmen.
Jetzt aber spürte sie auch mit voller Wucht, wie allein sie war. Im Lager hatte ihr Paul Vonwegh Halt in jeder Situation gegeben. Er war wie eine Realität gewesen, an der sich Karen orientiert hatte, sooft es nötig war. Hier, in Schweden, schrumpfte der Mann, den Karen liebte, auf ein Phantom der Erinnerung zusammen. Sie begriff, wie weit er von ihr weg war und wie verworren der Pfad sein mußte, der sie vielleicht und trotz allem wieder zusammenführen konnte.
Die Hoffnung war töricht, aber sie blieb Karen die einzige Möglichkeit, nicht lethargischer Verzweiflung zu unterliegen.
Der Beamte von der schwedischen Botschaft hatte Wort gehalten und ihr Vonweghs Feldpostnummer mitgeteilt. Wenn überhaupt, konnte Karen nur indirekt mit ihm in Verbindung treten. Sie schrieb an eine Freundin in Berlin, die den Brief an einen Bekannten Vonweghs weiterreichte, der ihn mit der richtigen Adresse versah.
Wieder hatte Karen ein taumeliges Gefühl im Kopf, als sie sich hinsetzte, um an Paul Vonwegh nach Jahren den ersten Brief zu schreiben. Aber dann wurden ihre Gedanken so sicher und präzise wie ihre Schriftzüge.
»Paul«, schrieb sie, »ich habe immer jede Minute für verloren gehalten, in der wir nicht zusammen waren, und diese Minuten addierten sich zu Stunden, Tagen und Monaten. Trotzdem muß ich Dir sagen, daß Du mir noch nie so gefehlt hast wie jetzt.
Es ging alles ganz plötzlich. Bevor ich überhaupt zur Besinnung kam, war ich im Land, aus dem meine Mutter stammt, und jetzt komme ich mir vor wie ein Deserteur, habe ich die fatale Empfindung, daß ich in Berlin hätte bleiben müssen, um zu warten.
Auf Dich.
Ich weiß, daß es dumm ist, was ich Dir schreibe, und daß es Dir vermutlich alles nur noch schwerer macht, aber vielleicht hat meine Bitte eine beschwörende Kraft, die Dich schützt: Komm wieder! Ich will nicht mehr allein sein. Ich brauche Dich, Du sollst Dich jeden Augenblick daran erinnern. Ich brauche Dich, hörst Du?
Deine Karen.«
Ihre Zeit im KZ erwähnte sievorsichtshalber nicht. Sie schloß das Kuvert, trat ans Fenster und starrte auf die Straße. Ihre Gedanken purzelten durcheinander, doch dann fassten sie sich und landeten in einer endlosen Einbahnstraße. Karen wurde auf einmal ganz jung und kindlich wie vor vielen Jahren.
Mein Gott, dachte sie, lass ihn wieder zurückkommen, lass ihn gesund zurückkehren. Ich, wir alle brauchen ihn, brauchen jeden einzelnen dieser Vonweghs.
Es gibt ja so wenige …
Alles ist abgesprochen: Morgen schlagen sich die Letzten aus Vonweghs Kompanie zu den russischen Linien durch.
Der Krieg liegt nun selbst im Sterben.
Dirlewangers Lumpenhaufen, den man jetzt an allen Ecken und Enden in die Schlacht wirft, ist ›ehrbar‹ geworden wie ein alternder Gangster und versteckt sich hinter der Bezeichnung ›SS-Grenadierdivision Dirlewanger‹.
Seit Dirlewangers marodierende Verbrecher, durchsetzt mit Politischen, aus dem Endkampf um Warschau herausgezogen wurden, hat sich die Struktur dieser seltsamen Einheit geändert. Das Stammpersonal ist nicht
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