Brigade Dirlewanger
war schön und warm. Sie zählten die Zeit nicht, die verstrich. War es ein Tag, eine Woche, ein Monat? Die Gegenwart hatte für sie keine Konturen, war ein Stück ohne Naht aus dem Meer der Ewigkeit.
Wenn die beiden auch die Umwelt leugneten, so ignorierte sie die Umwelt nicht. Es waren Kleinigkeiten: ein Klopfen an das Fenster, weil schlecht verdunkelt war; ein verwunderter Blick des Briefträgers, weil keine Post kam; eine rote Schlagzeile in der Zeitung; eine dumme Nachricht im Radio; Marschmusik, das Blech der Zeit.
»Was hast du?« fragte Karen.
»Nichts«, erwiderte er.
Sie sah ihm an, daß er log. Viel schlimmer jedoch war, daß sie das Gleiche gedacht hatte: an die Zukunft. Es wurde bald Herbst. Dem Herbst mußte der Winter folgen. Der Winter ist nichts für zwei, die keine kuschelig warme Stube haben …
Paul schlug sich mit diesem Gedanken herum. Sein Schicksal war ihm gleichgültig. Aber an Karen hatte er zu denken. Wer liebt, darf nicht egoistisch sein, redete er sich ein. Das echte, ganz große Gefühl besteht in Verzicht, wenigstens in unserem Fall. Karen muß nach Berlin zurück. Ich habe aus ihrer Welt zu verschwinden. Karen wird traurig sein. Sie muß damit fertig werden.
Pauls Empfindungen waren so stark, daß zum ersten Mal sein Wille versagte. Er wußte, was er zu tun hatte, und unternahm nichts, als Karen an sich zu ziehen, zu streicheln, sie festzuhalten, bis ihr Atem knapp wurde, ihr die Haare aus dem Gesicht zu blasen, Gedanken von ihrer Stirne wegzuküssen, ihren Mund zu nehmen. Immer wieder. Noch stärker. Noch öfter. Noch glücklicher …
Paul Vonwegh war wie gelähmt. Er lachte, weil sein Gefühl über den Verstand siegte.
Und dann kam der Schlag.
Er war im Wäldchen spazierengegangen. Karen hatte ihn wegen einer häuslichen Verrichtung nicht begleitet. Sie hatten sich deshalb gestritten. Es hörte sich an wie eine Liebkosung. Er kam früher zurück als erwartet. Er hörte Stimmen und ging in den Nebenraum.
»Ja«, sagte ein Unbekannter, »die ganze Familie … im Lager … Kein Mensch weiß, ob sie jemals wiederkommen.«
»Ja, aber …«, erwiderte Karen hilflos.
»Es ist eine Gemeinheit«, fuhr der Mann fort, »aber das sieht dieser braunen Bande ähnlich … Nur weil sie ihm für die Flucht ein Hemd gegeben hat … die eigene Mutter … Und jetzt …«
»Bitte«, sagte Karen.
Das Gespräch wurde leiser. Paul Vonwegh konnte nichts mehr verstehen. Sie mußten bemerkt haben, daß er zurückgekommen war. Was er in den letzten Wochen unterdrückt hatte, schoß jetzt wie Unkraut hoch: Er gefährdete Karen. Er mußte gehen. Ihr zuliebe. Auch wenn sie es nicht begriff. Auch wenn er zerbrach …
Man zerbricht nicht so leicht.
Damals sagte es sich Paul Vonwegh zehnmal, hundertmal. Jetzt sagte er es sich wieder. Er steht da und befehligt eine Postenkette, die die Flucht vor dem Massaker ausschließen soll.
Die Schreie haben nichts Menschliches mehr an sich. Ein dreijähriges Kind weint um seine Puppe. Die Mutter will sie holen. Es dauert dem Oscha Weise zu lange. Er jagt der Russin sein ganzes MP-Magazin durch den Leib. Sie fällt auf das Gesicht. Das Kind weint. Um die Puppe. Das mit der Mutter hat es noch nicht begriffen.
»Russenbalg!« flucht der Mörder und holt mit der Waffe aus.
Paul Vonwegh dreht sich um. Schluß. Er kann nicht mehr. Seine Hand preßt sich um den Griff. Die Knöchel werden weiß. Die Haut muß platzen. Er nimmt die Waffe. Er legt an. Auf Weise. Der Mörder wackelt im Visier. Petrat sieht ihn. Kirchwein betrachtet ihn. Paul Vonwegh zögert.
»Hier«, brüllt einer neben ihm.
Eine Frau und zwei Mädchen laufen blind auf den Zugführer zu, werden verfolgt, kommen näher. Kirchwein betrachtet ihn fragend. Vonwegh schüttelt den Kopf. Das vordere der Mädchen ist zwanzig Jahre alt, hübsch, dunkelhaarig. Und was sie will, steht in ihrem Gesicht: leben, leben, leben … Die Russin breitet die Arme aus und sieht zu Vonwegh empor, zu dem Mann, der vom Haß für den Haß lebt und jetzt morden muß, wenn er nicht reif sein will …
Vonwegh erfaßt, daß es für ihn keine Flucht, keinen Ausbruch, keinen Ausweg mehr gibt. Seine Hand zittert, sein Kopf schmerzt.
Plötzlich spürt er einen dumpfen Zorn gegen sich selbst. Aus den Gesichtern seiner Leute liest er unmißverständlich, daß er auffällt. Das kann, muß tödlich sein bei Dirlewangers Haufen, dessen Lebensregel Nummer eins heißt: in der Masse untertauchen, in Reih' und Glied stehen, als
Weitere Kostenlose Bücher