Bring mich heim
überzeugen können, dass sie es mir sagen konnte? Gar nicht. Schließlich kannten wir uns viel zu wenig. Auch wenn es mir vorkam, als ob ich sie bereits eine Ewigkeit kannte. Sie wirkte mir so vertraut. Wenn ich sie ansah, hatte ich das Gefühl sie zu kennen. Obwohl ich das nicht wirklich tat. Sonst würde ich wissen, was ihr fehlte. Und ich wäre nicht so ratlos, wie ich helfen konnte. Sie sah so zerbrechlich aus. Ich wollte ihr so gerne helfen, bei was auch immer sie so verängstigte. Aber ich wusste nicht, was sie bedrückte. Also ließ ich es gut sein.
Automatisch griff ich nach ihrem Gepäck. Dieses Mal sagte sie kein Wort, sondern bedankte sich schlichtweg bei mir. Sie war ohne dieses schwere Ding schon nicht schnell. Mit kam sie kaum nach.
Der Bus blieb stehen und wir gingen schweigend zu dem Ausgang und genauso ruhig zum Bahnsteig. Wir stiegen in den Zug ein. Sie marschierte vor mir und verharrte mitten im Gang. Sah mich ängstlich an.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich möchte nicht, dass du denkst, ich sei verrückt.« Ich war mir nicht sicher, ob ich sie recht verstand. Sie hauchte nur. »Ich ...« Sie stammelte und fing, wie so oft an diesem Tag, an ihrer Lippe zu beißen an. Der Drang, diese vollen Lippen von ihren Zähnen zu befreien, war groß. Meine rechte Hand bewegte sich etwas nach vorne. Schnell stopfte ich sie in meine Hosentasche. Sonst kam ich noch auf schlechte Gedanken. Aber hey ... ich war auch nur ein Mann.
Geduldig wartete ich, bis sie weitersprach. »Ich muss wirklich wie eine Irre auf dich wirken«, schmunzelte sie. »Ich weiß noch nicht mal, was ich jetzt zu dir sagen soll.« Diese verdammte Unterlippe. »Ähm ... du kannst verschwinden, wenn ich dir so vorkomme.« Mia konnte mir nicht mehr in die Augen sehen.
»Nein«, antwortete ich schnell.
»Nein?«, fragte sie irritiert.
»Nein, ich finde dich nicht verrückt.« Ich ging die paar Schritte zu ihr, welche uns entfernten. »Sondern ganz im Gegenteil.« Ich machte einen weiteren Schritt. Es trennten uns nur wenige Zentimeter. Sie beugte sich etwas zurück. »Nein, ich bleibe hier«, sagte ich leise.
»Okay.« Ihre Stimme war gedämpft. Mia schluckte kräftig. Ich bewegte mich kurze Zeit rückwärts, drehte mich dann auf den Fersen um. »Lass uns einen Platz suchen.«
Während der Fahrt schwiegen wir beinahe die gesamte Zeit. Ich versuchte sie ein weiteres Mal wegen des Geschehens anzusprechen. Und sie zu fragen, warum ich sie für verrückt halten sollte. Ihr Verhalten war nie das, was ich erwartete, aber sie würde ihre Gründe dafür haben. Ich überlegte, wie ich mit ihr über ihren Anfall sprechen konnte. Ein paar Mal öffnete ich den Mund. Doch schloss ich ihn sofort. Ich wollte nicht, dass sie wieder so eine Reaktion wegen mir bekam.
Dafür erzählte sie mir, dass sie aus Graz kam. Dort Journalismus studiert hatte. Und bis vor einem Jahr auch in diesem Beruf tätig war.
»Endlich erfahre ich auch etwas über dich«, sagte ich freudig.
»Ich bin nun mal nicht so ein offenes Buch wie du.« Sie klang beinahe so, als ob ich ihr mit dieser Frage zu nahe getreten wäre.
»Ja, offenes Buch bist du wohl keines. Hab dich noch nicht einmal auf einer Social-Media-Plattform gefunden.« Es war selten, dass man in der heutigen Zeit nirgendwo angemeldet war.
»So, du hast mich also gegoogelt? Und?« Mia verschränkte ihre Hände vor dem Körper. Sie blickte mich schief an.
»Nichts. Gar nichts.« Ich ahmte sie nach. »Du bist tatsächlich kein offenes Buch. Aber ich werde schon noch mehr über dich herausfinden.« Ich zwinkerte ihr zu.
»Nicht jeder möchte ein derart öffentliches Leben wie du führen«, war ihre Antwort darauf. Danach schwieg sie wieder. Starrte lange aus dem Fenster. Das Kinn in der Handfläche abgestützt. Sie überlegte. Zumindest sah es danach aus. Erst kurz vor Rom sah Mia einmal zu mir. Sie biss an ihren Nägeln. Hörte auf und setzte sich auf ihre Hände.
»Die letzten Stunden waren echt schön mit dir.« Sie kaute an ihrer Lippe. Ihr Blick war zum Boden gewandt. Ich beugte mich weiter nach vorne, um näher bei ihr zu sein. »Danke, dass du mir mein Gepäck abgenommen hast.«
»Mia ...«, unterbrach ich sie. Sie sah hoch. »Wir können gerne gemeinsam reisen.« Ich wollte nicht, dass Mia alleine weiterzog. Ich wollte mehr über sie erfahren. Um ehrlich zu sein, wollte ich ihr näher kommen. Sie hatte etwas, was mich enorm anzog. Und das war nicht nur das Lippenbeißen.
»Ich ... ich weiß
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