Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
schienen Gebete an den Gott der Christen belanglos, und sie hatte nie gelernt, wie man die alten Götter ihres Stammes anrief. Argante hätte es gewusst. »Base, hilf mir!«, rief sie, doch die einzige Antwort gab der Wind in den Bäumen.
Über ihre Lage nachzudenken verhieß Schmerz, und so mied sie jedweden Gedanken und verbannte die Erinnerung, während die Tage verstrichen. Stattdessen suchte sie Zuflucht im ewigen Jetzt des Waldes. Leben bedeutete, die Wärme der Sonne oder den kühlen Wind zu spüren, die Zufriedenheit, die Essen im Magen und die Süße des Wassers auf der Zunge bewirkten. Wortlos schien sie das Leben, das durch die gesamte grüne Welt rings um sie strömte, auf eine Weise zu spüren, die sie nur erahnt hatte, als sie noch Teil der Welt der Menschen gewesen war.
Leuchtende Augen schimmerten durch das Glitzern eines Wasserfalls; gertenschlanke Maiden lösten sich aus den Stämmen der Bäume und tanzten im Mondlicht. Und einmal, mitten im Sonnenuntergang, beobachtete sie, wie das Gras eines vergessenen Hügels sich gleich einer Tür öffnete, und sie sah, wie eine strahlende Gestalt ihr bedeutete hereinzukommen. Vielleicht wäre sie dem Ruf gefolgt, doch ihr Häscher hatte tief in der Kehle geknurrt, sie am Arm gepackt und fortgeschleift.
Der Wilde Mann hatte sein eigenes Gebiet, das er durchstreifte. An einer Stelle sammelte er süße Zwiebeln, an einer anderen Senf, aus einem Waldteich Fisch, unter einem umgestürzten Baumstamm Larven. Der Großteil seiner Zeit und Kraft ging dafür drauf, genug Nahrung für seinen mächtigen Leib aufzutreiben. Madrun riss den Saum von ihrem Rock und folgte ihm in etwas, das nunmehr einem kurzen Kittel glich. Manchmal schliefen sie in einem hohlen Baum, manchmal in einem von weichem Gras gesäumten Nest, doch immer kehrten sie zu der Eiche am Bach zurück.
Der Mond wurde voll und rund und segnete den Wald mit seinem silbrigen Licht. Hätte Madrun die Möglichkeit gehabt, den Kalender zu verfolgen, hätte sie gewusst, dass es in der Welt der Menschen jener Mond war, unter dem die Männer und Frauen gemeinsam um die Beltene-Feuer tanzten. Im Wald hingegen lag Madrun unter der Hand ihres Häschers zusammengekauert, wie sie sich einst um ihr Kätzchen geschmiegt hatte. Der Wilde Mann streichelte sie, wie sie früher ihre Katze gestreichelt hatte, fuhr ihr mit den langen, leicht bepelzten Fingern durch das Haar und summte vor sich hin, wie er es bei solchen Gelegenheiten des Öfteren tat. Sie hielt still, wenn er mit geblähten Nasenflügeln ihren Leib beschnupperte. Manchmal leckte er ihr über die Haut, dass sie erschauerte, gleichermaßen abgestoßen und erregt. In diesem Zustand geistlosen Erduldens schien es unvermeidlich, dass seine Berührungen eines Tages zudringlicher wurden, und als er sie zu Boden stieß und in sie eindrang, wie es Hunde taten, versuchte sie nicht, sich ihm zu entwinden.
Solange Vollmond herrschte, setzte sich dies fort. In jenem Winkel ihres Verstandes, der noch zu denken vermochte, wusste Madrun, dass Vernunft ihr gefährlichster Feind war. Ließe sie zu, dass sie verstand, was mit ihr geschah, würde sie in brabbelnden Wahnsinn verfallen. Sollte sie erkennen, dass es ihr gar gefiel, würde ihr Verstand sie gänzlich verlassen.
Als das silbrige Rund am Himmel dünner zu werden begann, schien der Wilde Mann das Interesse zu verlieren, wenngleich er sie nach wie vor fütterte und beschützte. Eines Nachts, als der Mond nur eine dünne Sichel am Firmament bildete, träumte Madrun. Sie blickte in einen Spiegel, doch dann begriff sie, dass es kein Spiegel, sondern Argante war, die ihren Namen rief. Und als sie antwortete, sprach die andere Frau: »Besinne dich der Hoffnung Britanniens! Besinne dich des Schwertes!«
Als Madrun erwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder als menschliches Wesen. Die ausgezehrten Züge, die ihr aus dem Waldteich entgegenstarrten, erkannte sie jedoch kaum noch. Wenn ich hier bleibe, werde ich sterben, dachte sie, und dann: Besser zu sterben, als wie ein Tier zu leben…
Der Wilde Mann beobachtete sie. Seine dunklen Augen wirkten sorgenvoll, so als spürte er ihr Unglück, doch Madrun weigerte sich, Mitleid für ihn zu empfinden. Sie fürchtete ihn nicht mehr, auch widerte ihr seltsames Zusammenleben sie nicht mehr an. Doch von da an versuchte sie aus eigener Kraft, ihre Menschlichkeit wiederherzustellen.
Drei Tage später hörte sie in der Ferne den traurigen Klang eines Jagdhorns.
Weitere Kostenlose Bücher