Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
Viele lange Nächte hatte er ihm Gesellschaft geleistet, während der Philosoph beobachtete, wie die Konstellationen über den Himmel zogen. Mogantius galt als Anhänger Piatons und dessen späterer Schüler Jamblichos und Porphyrios, ein Kenner griechischer Mythen und ägyptischer Magie, dem Großen Werk verschrieben, durch welches sich ein Mensch in einen Gott verwandeln konnte.
Maglicun schnaubte verächtlich. »Selbstverständlich wird es Veränderungen geben. Die Nacht weicht dem Tage, der Winter dem Frühling. Es entspricht dem Lauf der Welt, sich im Kreis zu drehen, nicht entlang einer geraden Linie zu wandern, wie ihr Christen behauptet. Das Ende einer Sache kennzeichnet den Beginn einer anderen. Ein weiser Mann lernt, diese Zyklen auszulegen, und bewegt sich mit ihnen, anstatt gegen den Strom anzukämpfen.«
Ambros nickte. Dies war die Weisheit des Volkes seiner Mutter und ließ etwas in seiner Seele anklingen. Doch all das Gerede von Veränderungen bereitete ihm Unbehagen. Würde Vitalinus ihn auffordern zu prophezeien? War er überhaupt noch dazu imstande? Bei dem Gedanken verspürte er die vertraute Woge der Benommenheit und die Anwesenheit seiner unsichtbaren Freundin, die plötzlich in seinem Verstand erwachte wie eine alte Melodie.
Er schüttelte den Kopf und kniff sich, auf dass sein Geist sich nicht vom Körper löste. Nein. Ich will nicht sehen, was be vorsteht! Ich will es nicht wissen.
»Dem ist wohl so«, sprach Godwulf, »aber der kleine Priester sagt ganz richtig, dass die Fäden, welche die Nornen gesponnen haben, vielleicht nicht zerreißen. Letzten Endes zählt nicht das Ergebnis, sondern die Art und Weise, wie ein Mensch sich seinem Schicksal stellt. Dennoch, um gewarnt zu sein, schadet es nicht, dem ins Gesicht zu sehen, was sein soll. Ich werde die Runen werfen und sehen, was sie verheißen.«
Ambros hatte von dem Thylen ein wenig über die Runenkunde der Heruler gelernt und fand sie machtvoll, aber seltsam. Godwulf drehte sich um, als hätte er gespürt, dass Ambros ihn anstarrte, und der Junge fühlte neuerlich, wie jene Aura der Vorahnung ihn berührte und benommen machte.
»Wir müssen mit den Männern des Rates und dem Oberkönig reden«, meinte Melerius schließlich. »Wir müssen sie begreifen machen.«
Dies waren weise Männer, dachte Ambros, und sie würden weise sprechen. Und doch wusste er, dass der Vor-Tigernus letzten Endes jene wilde Macht anrufen würde, die durch den Jungen ohne Vater sprach, und Ambros vermochte nicht vorherzusagen, was jene Macht verkünden würde.
Der Fluss Ictis wand sich sanft durch Schilfbeete und Weideland. Sein ruhiges Dasein täuschte über die Nähe der Stadt Venta Belgarum hinweg, deren Schindeldächer jenseits der Bäume zu erspähen waren.
Der Frühling war feucht gewesen, und das Wasser floss hoch und heftig, die Oberfläche jedoch präsentierte sich ruhig und verschleierte die Kraft des Stromes. Mit den wärmeren Tagen des Sommers war der Pflanzenwuchs üppig grün erblüht und überwucherte hie und da sogar den Pfad neben dem Fluss.
Doch Ambros schob sich entschlossen vorwärts, wobei er gelegentlich über die Schulter zum Dach der Basilika blickte, wo der Vor-Tigernus mit den Fürsten Britanniens zu Rate saß. Zwar befand er sich längst außer Hörweite, dennoch vermeinte er die wütenden Stimmen immer noch in seinem Schädel widerhallen zu hören.
Der Tag wies jene schwüle Stille auf, die einen Sturm ankündigte, obwohl am Himmel keine einzige Wolke prangte. Ambros hielt inne und schaute in das braune Wasser hinab. Seine scharfen Augen erhaschten die geschlängelten Bewegungen des gesprenkelten Barsches und der silberschuppigen Brasse, doch obwohl es ihm gelang, einen Lidschlag lang die trägen, ruhigen Gedanken der Fische zu berühren, die sich in den Tiefen verbargen, konnte er die Leidenschaft der Menschheit nicht vergessen. Mogantius hatte versucht, ihm die Kunst zu vermitteln, seine Seele gegen die Empfindungen anderer zu verschließen, aber Ambros beherrschte sie noch nicht. Er fragte sich, ob Mogantius selbst die Kraft besaß, das aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was sich heute ereignete.
Drei Tage lang hatten sie gestritten, drei Tage, während der Vitalinus unnachgiebig beharrte, die reichen Landbesitzer der Landesmitte und des Westens sollten zur Verteidigung ihrer östlichen Nachbarn beitragen. Und drei Tage lang hatten die Großgrundbesitzer Britanniens entgegnet, die Gefahr, vor der sie zu beschützen die
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