Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
erhellte die Stätte der Verwüstung und das leere Loch im Boden. Männer rappelten sich auf und glotzten mit weit aufgerissenen Augen um sich. Einer nach dem anderen versammelten sie sich um den Vor-Tigernus und den Knaben.
»Was hat das zu bedeuten? Warum sind sie gekommen?« Vitalinus hob Ambros auf und stellte ihn auf die Beine. Der Knabe rieb sich die Augen. Er fühlte sich benommen; seine Sicht war immer noch von jenem letzten grellen Blitz beeinträchtigt, sodass er nur mit kleinen Lichtfunken gesprenkelte Schatten sah.
Schon wollte er antworten, er wüsste es nicht, doch in seinem Kopf sprach seine unsichtbare Freundin. Während er ihr lauschte, begann er zu weinen, denn er fühlte sich unsagbar müde, und was sie sagte, erfüllte ihn mit Furcht. Ambros schüttelte den Kopf, doch das Wissen wollte nicht weichen, und letzten Endes erwies es sich als einfacher, die Augen zu schließen und die Worte auszusprechen.
»Der Rote Drache gehört zu den Stämmen. Er ist ein Teil dieses Landes.«
»Und der Weiße?« Die Frage schien aus unendlicher Ferne zu erklingen.
»Der Weiße kommt von jenseits des Meeres. Er folgt dem Pfad der Eroberer, den die ersten Römer einschlugen. Der Weiße Drache gehört zum Volk der Sachsen, die Ihr in dieses Land gerufen habt. In Blut und Feuer werden sie sich gegen Euch erheben, und nur in diesen Bergen wird der Rote Drache Zuflucht vor dem Feind finden…«
Mit den Worten setzten Bilder ein: lodernde Städte, tote Kinder, die wie weggeworfene Puppen über den Boden verstreut lagen, flüchtende Familien, verfolgt von hellhaarigen Männern mit blutigen Schwertern. Es war zu viel für Ambros – sein Geist floh in sein tiefstes Inneres, während die unheilvolle Prophezeiung unablässig von seinen Lippen drang.
Als Ambros erwachte, wusste er, dass er lange geschlafen hatte, denn es war bereits dunkel. Neben dem leeren See loderte ein Leuchtfeuer. Er lag mit dem Kopf auf dem Schoß seiner Mutter, warm von ihren Armen umschlungen. Er fühlte sich hohl, als verankerte ihn einzig die Berührung seiner Mutter mit der Erde. Zaghaft regte er sich; sogleich rannte einer der Männer los, die über ihn gewacht hatten. Bald schob sich ein Schatten zwischen Ambros und das Feuer. Als er aufschaute, erblickte er den Oberkönig.
»Nun, Ambros, du hast meine weisen Männer beschämt«, meinte Vitalinus.
»Sie waren Narren… Gebt Ihr nun meiner Mutter das Gold? « Ambros schluckte. Seine Stimme hörte sich heiser an, als hätte er geschrien. Madrun reichte ihm warme Milch in einer kleinen Schale. Dankbar trank er.
»Ich halte mein Wort«, erwiderte der König. »Aber wenn meine Druiden Narren sind, muss ich sie verjagen. Bleib bei mir, Ambros, und werde mein Seher.«
»Aber er ist doch noch ein Knabe!«, rief Madrun aus.
»Ist er das wirklich?« Ihre Blicke trafen sich über Ambros’ Kopf.
Wenn ich nach Hause zurückkehre, dachte Ambros, quält Dinabu mich weiter, und mein Stiefvater wird zürnen und mich verwünschen. Hier, wo so viele Menschen kommen und gehen, finde ich vielleicht heraus, wer ich bin…
»Ich bleibe«, verkündete der Junge in die angespannte Stille. Vitalinus wandte sich ihm zu. Ambros schaute in jene gelben Augen empor, und letzten Endes war es der Vor-Tigernus von Britannien, der den Blick abwandte.
IV
Die Schmiede
A.D. 437
Die weisen Männer Britanniens berieten sich in den Gemächern des Oberkönigs. Sie hatten sich im Portikus des einstigen Palastes des römischen Statthalters von Britannien zusammengefunden: der Philosoph und Priester Mogantius, der die Sterne beobachtete; ein Druide aus den Ländern der Votadini namens Maglicun und ein weiterer aus Gwenet namens Melerius; und Godwulf, der sächsische Thyle, predigte unter dem teilnahmslosen Blick gemalter Götter. Bei ihnen saßen Vater Felix, der ein Schüler des Pelagius gewesen, und Martinus, der aus Gallien herübergereist war, um die neue Theologie zu predigen, mittels welcher Augustinus von Hippo die Katastrophen erklärte, die über das Kaiserreich hereingebrochen waren. Und knapp außerhalb des vom Kohlenbecken geworfenen Lichtkreises hockte und lauschte des Königs Seher, Ambros, der Sohn der Nonne, mit dem Rücken an eine Marmorsäule gelehnt, die Arme um die Knie geschlungen.
Einige der weisen Männer des Vor-Tigernus betrachteten Ambros als geistloses Sprachrohr für Prophezeiungen. Von Zeit zu Zeit wurden solche Geschöpfe geboren – unfähig, ordentlich zu sprechen oder für sich
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