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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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welche Weise die Wahl eines Feldherrn sich von der eines Königs unterscheiden mochte. Abermals blies der Wind und zerzauste ihm das helle Haar, und mit dem Windstoß prasselten die ersten Regentropfen herab.
     
    Die Tore Verulamiums standen offen. Oesc stand auf dem Wehrgang der alten römischen Stadtmauer und spähte am Turm des Torhauses vorbei auf die britische Armee, die draußen lagerte. Doch es waren nicht Leudonus und seine blutbefleckten Veteranen, die sie belagerten. Die Streitkräfte vor dem Tor – dunkelhaarige Römer mit den Brustpanzern ihrer Großväter oder hellhaarige Briten mit karierten Umhängen über den Kettenhemden – waren Männer aus dem Süden und Westen, die dem Befehl ihres sterbenden Königs unterstanden.
    Octhas Miene hatte sich verfinstert, als er erfuhr, dass Uther gegen ihn aufmarschiert war. Es erinnerte ihn an die Zeit seiner Gefangenschaft. Und dann hatte er seinen Leuten befohlen, die großen Tore, die den Pfad aus Westen in die Stadt schützten, zu entriegeln und zu öffnen.
    »Warum senden wir Uther nicht gleich eine Einladung, uns durch das Westtor anzugreifen?«, rief Baldulf aus, als Octha den Befehl erteilte.
    »Genau das mache ich doch«, entgegnete Octha und grinste durch den Schnurrbart. »Oder wolltest du etwa den Winter hinter diesen Mauern verbringen und verhungern? Innerhalb der Stadt sind ihre Pferde nutzlos, und wir können sie überwältigen.«
    »Falls sie kommen«, gab Colgrin zu bedenken.
    »Falls nicht, spielt es keine Rolle, ob die Tore offen oder geschlossen sind!«
    Oesc hatte der gespannten Stille gelauscht und danach Colgrins jähem Auflachen. Die britische Armee jedoch, die in Zelten und Verschlagen aus Buschwerk rings um die Stadt ausharrte, griff weder an, noch gab sie die Belagerung auf.
    Wie jeden Tag, seit die Briten eintrafen, beobachtete Oesc sie vom Wachturm aus, da er nach all den Geschichten, die er über diesen Feind gehört hatte, neugierig war. Manchmal trug ihm der Wind die hastigen, rhythmischen Laute der britischen Sprache zu oder den volltönenden Klang von Latein, zumeist aber lernte er, indem er beobachtete. Er hatte sich an die Vielschichtigkeit der sächsischen Streitkräfte gewöhnt, die sich aus Männern aller Stämme des Nordens zusammensetzten. Doch diese Briten erschienen noch vielfältiger, und in ihren Gesichtern sah er in Miniatur jenes Mosaik, aus dem sich das römische Weltreich zusammensetzte.
    Für die Sachsen verkörperten sie einen altbekannten, achtbaren Feind. Oesc hingegen besann sich von Zeit zu Zeit, wenn er sah, wie der britische König durch das Lager getragen wurde, wie sehr sein Großvaters an seinem Land gehangen hatte, und schämte sich. Doch sobald er wieder seinen Vater erblickte, verflüchtigte sich dieses Gefühl. Octha, dessen Haut mittlerweile vom Wetter bronzen gegerbt war und dessen Körper der sommerliche Feldzug zu einem mächtigen Gebilde aus Muskeln und Sehnen geformt hatte, stand nun auf dem Gipfel seiner Macht. Er galt als ein so bedeutender Held wie Sigfrid Fafnarstöter, von dem die Barden zu singen pflegten.
    Eadguth war ein Landkönig gewesen, mit Leib und Seele seiner Heimaterde verbunden. Octha, Sohn des Hengest, war ein Eroberer.
    An jenem Abend trafen sich die sächsischen Häuptlinge im Speisesaal des Hauses, in dem einst Cadrod, der Fürst von Verulamium, der früher oberster Friedensrichter der Stadt gewesen war, seinesgleichen unterhalten hatte. Die Wände des Raumes waren mit rotem Ocker bemalt und an den Rändern von einem Muster ineinander verschlungener Weinranken verziert. Der Besitzer des Hauses war längst geflüchtet; Oesc, der für Nachschub an Bier sorgte, fragte sich, ob er wohl gerade in Uthers Lager hockte und sehnsüchtig auf die Mauern blickte, hinter denen sein Heim lag. Die meisten der hohen Herren der Stadt waren geflohen oder getötet worden, als die Sachsen einmarschierten. Octha jedoch besaß die Autorität, Plünderungen zu untersagen, und wenngleich die gewöhnlichen Bürger die bei ihnen einquartierten Krieger nicht unbedingt mit Freude aufnahmen, zeigten sie doch auch keine nennenswerte Feindseligkeit.
    »Wie lange werden wir hier eingekerkert bleiben? «, wollte einer der jüngeren Häuptlinge wissen. »Wenn wir zu lange warten, kommt Leudonus seinem Schwiegervater zu Hilfe!«
    »Wenn das geschieht, lasse ich die Tore schließen.« Die goldene Kette um Octhas Hals funkelte, als er lachte. »Aber ich glaube kaum, dass die Briten die Belagerung so lange

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