Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
herauf. Als ihre Wahrnehmung sich veränderte, vermeinte sie ihn wanken zu spüren, obwohl lediglich ein leichter Wind blies. Sie bündelte ihre Aufmerksamkeit auf den Gesang, und mit jeder Wiederholung fühlte sie, wie die Verbindung zwischen Geist und Körper loser wurde, bis sie in ihr Innerstes tauchte und hinwegtrieb, gleich einem Boot, das sich aus der Vertäuung löst.
Bilder wirbelten an ihr vorbei: der Turm und die rings um ihn lagernde Armee, die immer noch im Sternenlicht liegenden, an- und abschwellenden Feld- und Waldstreifen mit den schwarzen, funkelnden Flüssen, die das Land wie Adern durchzogen. Dann verschwammen auch diese Eindrücke; zurück blieb nur die gewaltige Ebene von Mittelerde, und mitten darin die starke Säule des Weltenbaumes, dessen rankende Äste den Himmel streiften.
Doch der Wille, der sie antrieb, zog sie tiefer, ließ sie unter einer der drei mächtigen Wurzeln des Baumes in Finsternis eintauchen. Im Kreise drehend, raste ihr Geist hinab, vorbei an Nebel und Schatten, vorbei an den Wurzeln der großen Berge, wo die Eisströme rauschten. Durch die Hitze von Muspells Feuer reiste sie und vorbei an dem kühlen, grauen Spiegel des Schicksalsbrunnens. Und immer noch riss ihr Flug sie in die Tiefe, bis sie die große Schlucht des Weltflusses und die letzte Brücke erspähte, hinter der sich das Land erstreckte, über das die Dunkle Herrin herrscht und in dem die Äpfel der Seligen und der wilde Schierling wachsen.
Ein letztes Tor blieb zu passieren. Sie stürzte in Finsternis hinein, und für Ungewisse Zeit nahm sie überhaupt nichts mehr wahr.
Scheinbar lange Zeit später wurde sie einer leisen Stimme gewahr, die ihren Namen rief. Widerwillig zwang sie ihren Verstand, der Stimme zu lauschen. Es war Octha, der mit demselben, ruhigen Tonfall sprach, mit dem er seine Krieger befehligte.
»Weisfrau, sag, was hast du gesehen?«
Mit den Worten lösten sich verschwommene Bilder aus der Dunkelheit. Mühevoll formten ihre Lippen eine Antwort.
»Eine dunkle Ebene und einen dunklen See, in dem ein schwarzer Schwan schwimmt«, murmelte sie, wobei sich ihre Stimme brüchig anhörte als käme sie aus weiter Ferne. »Vor mir fliegt mein Rabe, und rings um mich schimmern die fahlen Gesichter derer, die vor uns verschieden sind.«
»Unsere Feinde umzingeln uns. Wie sollen wir sie zur Schlacht zwingen?«
In der Pause, die folgte, setzte ihr Atem ein und aus wie der Wind und bauschte den Stoff des Schleiers. Das Bild vor ihr verschwamm. Da war immer noch Wasser, doch nun erkannte sie in dessen Mitte eine Insel. Aus den Wäldern, die das Eiland umgaben, hörte sie das Kläffen von Jagdhunden, und kaum einen Lidschlag später sah sie, wie die Tiere am Ufer auf und ab sprangen. Was verbellten sie? Die Hexe schärfte die Sinne, um es zu erspähen, und alsbald wurde ihr bewusst, dass sie wieder zu sprechen begonnen hatte.
»Ich sehe einen Wolf, der auf einer Insel gestellt wird. Die Hunde warten am Ufer. Sie schwimmen nicht hinüber, sie meiden die scharfen Fänge des Wolfes. Er sieht sich um und hält nach der schwächsten Stelle des Kreises Ausschau, dort, wo ihn der alte Rudelführer beobachtet, entdeckt er sie; dort wird er den Kampf antreten.« Sie holte tief Luft. »Wollt Ihr noch mehr wissen?«
»Wird der britische König sterben?«
»Alle Menschen sterben!« Die Antwort flog ihr sofort zu. »Und dieser Mann ist bereits halb tot.«
Haedwig atmete tief durch, sie ließ der Vision freien Lauf, beobachtete das Kommen und Gehen der Bilder bis sie auf etwas stieß, das sie in Worte fassen konnte.
»Und werden unsere Söhne das Land erben?«, fügte Octha hinzu.
»Ich sehe, wie der Wolf und der Hund in einem Rudel rennen.« Weitere Visionen tauchten vor ihr auf. »Ich sehe, wie Weizen und Hafer auf einem Feld wachsen – sein Samen wird über die Herzen der Menschen herrschen, der Eure aber über das Land.«
Während sie noch über diese Antwort nachgrübelten, meldete sich eine andere Stimme zu Wort, die sie als jene Bandulfs erkannte.
»Und was ist mit der Schlacht?«
Haedwig schauderte heftig; ihr Geist stöhnte und wand sich unter dem Ansturm der Gesichte. Raben kämpften – nicht das friedliche Wesen, das der Führer ihres eigenen Geistes war, sondern gefiederte Geschöpfe, riesig und furchterregend anzusehen, deren Schreie Mark und Bein erschütterten.
»Ich sehe die Weiße Rabin aufsteigen; Männer sterben, wenn sie kreischt. Aber Woden schickt Hyge und Mynd gegen sie ins Feld;
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